Abbildung des Buchcovers von Lolita
Lesedauer 5 Minuten

Über das Meisterwerk und die Macht von „Naming”

Welche*r Buchliebhaber*in kennt’s nicht? Mit der Liste der Bücher, die man noch lesen möchte, bevor man alt und grau und müde wird, könnte man die ganze Wohnung tapezieren. Irgendwo auf dieser Liste tummelt sich dann auch der ein oder andere Klassiker. Bei mir stand da zum Beispiel Nabokovs wohl berühmtestes Werk Lolita. 1957 erstmalig in Amerika erschienen und vielfach von Diskussionen begleitet, half es dem damals 60-jährigen Autor zum endgültigen Durchbruch. Auch als Stanley Kubrick den Stoff 1960 verfilmte, klingelten die Kinokassen und Nabokovs Geldbörse. Stellt sich nur die Frage: War das die Dolores Haze, die Lolita, deren Geschichte Nabokov im Roman erzählt hat? Bevor wir diese Frage – vielleicht – klären können, fangen wir erst mal von vorne an, genauer gesagt im Jahr 1947.

Humbert Humbert und Dolores Haze

In diesem Jahr trifft der zum Zeitpunkt der Handlung 37-jährige Ich-Erzähler auf die 12-jährige Dolores Haze. Er arbeitet als Literaturwissenschaftler und deswegen gerade an einem Übersetzungsprojekt, für welches er über den Sommer eine ruhige Unterkunft sucht. Nachdem sich die erste Möglichkeit zerschlägt, wird ihm Unterschlupf bei Charlotte Haze gewährt; einer Mitdreißigerin, deren Zuhause Humbert Humbert eher an eine Rumpelkammer erinnert, in der er keineswegs lange bleiben möchte – bis er Dolores im Garten entdeckt. Sie erinnert ihn augenblicklich an seine erste und einzige Liebeserfahrung mit einer “Nymphette”: Damals im Sommer, als er und Annabel noch fast Kinder waren – und bevor das Fieber das Mädchen im nächsten Sommer dahinraffte. Seitdem hängt Humberts Begehren in dieser Nacht fest. Immerzu träumt er von kindlichen Mädchenkörpern. Dem Körper von Mädchen zwischen 9 und 14 Jahren. Wir Leser*innen verfolgen somit das Erleben eines Pädophilen mit – manchmal minutiös, manchmal ausschweifend. Und in den Zwischensequenzen verboten poetisch. Humbert Humbert versteht sich auf Tarnen und Täuschen.

Humbert richtet sich also bei den Haze’s ein und heiratet kurzerhand Charlotte, um weiterhin in der Nähe ihrer Tochter zu sein können. Als Charlotte einige Zeit später bei einem Unfall stirbt, erwirbt er die Vormundschaft für Dolores und begibt sich auf eine zweijährige Reise durch die unendlichen Weiten des Amerikas der 40er Jahre. Dabei lässt er keines der möglichen (Touristen-)Highlights aus, um Lolita alles zu bieten, was seiner Meinung nach ihr Herz begehrt: Den größten Stalagmiten der Welt, den kleinen Eisbergsee in Colorado, Fischzüchtereien, dazwischen jede Menge Restaurants, teure Motels, schäbige Motels, endlose staubige Straßen – und dieses oder jenes Geschenk für besondere Gegenleistungen. Dolores scheint sich in ihrem neuen Leben eingerichtet zu haben, sie nutzt ihre “Reize”, um ihre materiellen Belohnungen zu erhaschen; nachts jedoch hört Humbert sie sich in den Schlaf weinen. Er beschließt daher vorübergehend, ihr in der Kleinstadt Beardsley ein sesshaftes Leben zu bieten und schickt sie dort auf eine Mädchenschule, an der sie auch regelmäßig für eine Rolle in einem Theaterstück probt. Nach einem Streit und versuchter Flucht von Dolores, bietet sie dem erstaunten Humbert an, auf Schule und Theater zu verzichten und wieder auf Reisen zu gehen – dieses Mal würde jedoch sie die Route bestimmen. Humbert willigt ein, merkt jedoch schnell, dass ihnen ein Verfolger an den Fersen hängt. Ein Detektiv? Ein Konkurrent? Oder alles nur Hirngespinst? Er soll es drei Jahre nach Dolores erneuter Flucht erfahren – während ihres Aufenthaltes im Krankenhaus verschwindet sie, dieses mal spurlos und endgültig.

Die Antworten auf die ihn quälenden Fragen bringen ihn letzten Endes in das Gefängnis, in dem er seine Rechtfertigungsschrift aufsetzt: Seine Geschichte über Dolores Haze, seine Lolita; die Geschichte, die wir Leser*innen vor uns haben.

Lolita als Marketing-Opfer ihres Namens?

Filmposter von Lolita mit Lollipop und Herzchenbrille
Plakat zum Kinostart des Films Lolita von 1962, der ersten Verfilmung des gleichnamigen Romans von Vladimir Nabokov aus dem Jahr 1955. Das Plakat wurde in den Vereinigten Staaten vor 1978 ohne gültigen Urheberrechtsvermerk veröffentlicht und hat damit seinen Urheberrechtsschutz verwirkt und ist gemeinfrei geworden.

Herzchensonnenbrille und Lolli – das Plakat zu Kubricks Verfilmung hat fast schon Kultstatus. Eigentlich wollte ich euch nun folgend kurz und einfach beschreiben, was man unter Naming versteht. Nach einigem Nachlesen habe ich aber festgestellt, dass einfach hierfür nicht unbedingt geeignet ist. Einen Versuch ist es trotzdem wert. Mir selbst ist der Begriff in unserem Englischkurs begegnet: In einem Essay über “Animal Studies” tauchte er in Bezug auf Namen als Außenrepräsentanten auf. Kurzum, wie Dinge benannt werden hat einen Einfluss auf deren Wahrnehmung. Hinzu kommt unser menschliches Bedürfnis, jedem Objekt/Subjekt einen Namen zu geben. Es ist Voraussetzung, damit wir etwas benennen und darüber kommunizieren können. Namen schaffen außerdem Vertrautheit; sie können in der Kommunikation bewusst benutzt werden, um Verbindung aufzubauen oder Aufmerksamkeit zu generieren. Namen/Bezeichnungen sind auch ein Machtinstrument. Es gibt viele Aspekte, die hier im Bereich der Kognition, Psychologie und Philosophie eine Rolle spielen. Spannend ist Naming zudem in puncto Produktbenennung. Namen lösen nicht nur Assoziationen aus – richtig gewählt verkaufen sie sich auch gut. Und das scheint mir die Verbindung zu Lolita zu sein: Eine Romanfigur, die sich zu einem fragwürdig vermarkteten Objekt entwickelt hat. Im Marketing findet man unter Naming » Definition & Bedeutung » credia zum Beispiel Folgendes:

“Unter dem Begriff Naming, auch als Namensentwicklung bezeichnet, versteht man die Entwicklung eines Namens für die Benennung eines Produktes, einer Dienstleistung oder eines Unternehmens. Diese Entwicklung ist sehr komplex, weshalb zunehmend spezialisierte Agenturen damit beauftragt werden.”

Ich bin überfragt, gehe aber schwer davon aus, dass es das zu Zeiten Nabokovs noch nicht gegeben hat. Zumindest nicht in dieser Form. Denn vermarktet wurde sehr wohl. Wie die Dokumentation
Die Wahrheit über Lolita (ARTE) zeigt, hat Nabokov seiner Entrüstung über den Umgang und der darauffolgenden Wahrnehmung von Lolita in späteren Jahren Luft gemacht. Aber, wie kams dazu?

Die Dokumentation kritisiert, dass mit Kubricks Verfilmung die Figur Lolitas in ein keckes, mit ihren Reizen spielendes Mädchen umgedeutet wurde. Damit revidierte er das Missbrauchs-Verhältnis als zentrales Thema des Romans. Nachdem der Film in die Kinos kam, überfluteten frivole Lolita-Cover den internationalen Buchmarkt – und das obwohl Nabokov ursprünglich nie vorgesehen hatte, Lolita ein Gesicht zu geben, so der Off-Kommentator in „Die Wahrheit über Lolita“.

Das Geschäft mit dem Lolita-Ideal

Der Film wirft abschließend auch einen Blick auf eine der fragwürdigsten Ausgeburten dieser Fehlinterpretation: Den Lolita-Kult, der besonders in Japan beliebt ist. In diesem Modegenre tragen junge Frauen kurze, quietschige Rüschenkleidchen und stecken sich Schleifen ins Haar. Diese Beschreibung ist natürlich zu kurz gegriffen, aber für einen ersten Eindruck sollte es reichen. Ich fand das Puppenhafte früher selbst faszinierend und hatte den ein oder anderen verliebten Blick auf die Kleider geworfen. Hier ein Beispiel:  Post auf Pinterest.

Ich finde es immer noch schön und verstehe es als eine Art Kunst. Und ja, es gibt dezentere Beispiele. Und ja, die meisten dieser jungen Frauen haben keinerlei Vermarktungsgedanken gegenüber zweifelhaft zweideutigen Männern. Es ist ein Fashionstatement. Ausdruck von Individualität. Wer sollte das negativ werten? Gerade ich predige schließlich pausenlos, dass jeder sich selbst verwirklichen und so zeigen soll, wie er es möchte. Unabhängig davon, was andere dazu sagen.

Mein Fazit aus der Sache könnte also Folgendes sein: Selbstbewusstsein und Persönlichkeit sind wichtig; vielleicht sollten wir aber neue Trends kurz reflektieren und ihren Ursprung kennen. Und lesen. Lesen sowieso.

 

 

Wenn ihr nun selbst einmal reinlesen wollt ist hier der Link zum Buch das mir die wunderbare A L I C I A 🍂 (@floating_pages) • Instagram-Fotos und -Videos geschenkt hat: Lolita (Taschenbuch), Vladimir Nabokov (hugendubel.de).

Hinweis: unbezalte Werbung / unbezahlte Verlinkung
Natascha Huber