Lesedauer 7 Minuten

Heute ist es mal wieder soweit: Nach meinem Artikel über Selbstliebe gibt’s auch heute einen meiner eigentlich-wollte-ich-euch-ganz-was-anderes-erzählen-Blogartikel. Wie immer werde ich auch den geplanten Artikel noch nachliefern. Aber jetzt ist erst mal wieder #realtalk angesagt. Real, weil mentale Gesundheit in der heutigen Gesellschaft überall präsent ist, es aber immer noch schwer fällt, die eigene Realität nach Außen zu kommunizieren. Hier ist meine: Willkommen in der Welt der sozialen Angststörung, neumodern auch Social Anxiety- Disorder genannt.

Wieder ins Leben entlassen. Oder so ähnlich.

Zumindest fühlt es sich so an. Etwas überraschend kam er schon, dieser Vorschlag meiner Therapeutin diese Woche. Wir beenden die Therapie. Natürlich habe ich ihr zugestimmt. Ganz pragmatisch gesehen: Nachdem sich die 80 Stunden Therapie dem Ende zuneigen, bin ich – mit noch ein paar Pufferstunden für Notfälle – in die große weite Welt entlassen. Keine Small-Talk-Montage mehr. Keiner mehr, der mir den Kopf zurück in die Rationalität schiebt. Dafür bin ich nun selbst zuständig. Nicht, dass ich das prinzipiell nicht könnte. Ich bin eine erwachsene Frau, habe Vieles in meinem Leben erreicht. Ich bin stolz. Und stark. Wenn da nicht diese Menschen wären. Menschen, die ich schätze. Mit denen ich mich austauschen möchte. Die mich vor Herausforderungen stellen.

Sehe ich aus, als hätte ich Angst vor Menschen? Eher nicht, würde ich sagen. Aber das ist es auch nicht. Schauen wir uns das Ganze also mal von der medizinischen Warte aus an.

Bild: Susi Hazelwood (Pexels)

Soziale Angststörung: Ursachen. Symptome. Daten.

Laut dem Bildungsministerium für Bildung und Forschung leiden etwa 10 Millionen Menschen in Europa an einer sozialen Angststörung. Damit gehört sie zu einer der am häufigsten auftretenden Angststörungen. Auf psychenet.de findet sich zu den Symptomen der Sozialphobie folgende Ausführung:

Die Angst bezieht sich oft auf Situationen, in denen man beobachtet oder bewertet werden könnte – wie bei Prüfungen oder beim Reden oder Essen in der Öffentlichkeit. Sie kann aber auch in Situationen auftreten, in denen man Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen möchte oder muss, z.B. bei Unterhaltungen mit Fremden, mit Menschen des anderen Geschlechts oder im Umgang mit Autoritätspersonen. Situationen wie diese vermeiden Menschen mit sozialer Phobie möglichst oder halten sie nur unter starker Angst durch.

Soziale Phobie – psychenet.de

Bild: Cottonbro (Pexels)

Auch der Artikel auf netdoktor scheint mir das Ganze sehr treffend zu erklären. Natürlich hat jede*r Betroffene eine ganz individuelle Erfahrungswelt und es gibt unterschiedliche Auslöser und variierende Reaktionen. Da ich selbst Niemanden kenne, der ebenfalls unter einer sozialen Angststörung leidet, kann ich euch also nur von meinen eigenen Erfahrungen erzählen. Körperlich lässt es sich ganz einfach zusammenfassen. In entsprechenden Situationen fühle ich mich bedroht. Es ist dieses konstante Gefühl von “gleich passiert etwas ganz Schlimmes.“, was ÜBERHAUPT nicht zur tatsächlichen Situation passt. Ich weiß das. Aber es hilft nix.

Ich fange an zu schwitzen. Mein Herz rast und mein Puls dröhnt so in meinem Kopf, dass ich kaum noch in der Lage bin, etwas um mich wahrzunehmen oder zu hören. Mir ist schwindlig. Ich fühle mich gelähmt und unfähig zu sprechen. Ich will weg. Nach solchen Situation bin ich erschöpft. Liege handlungsunfähig auf der Couch. Versuche meinen alltäglichen Aufgaben gerecht zu werden und weiß oft nicht wie.

Sozialphobie nach der ICD-10 Klassifikation

Eine Sozialphobie wird – neben der oben genannten Angst im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen – grob unter folgenden Aspekten diagnostiziert (hier Auszug zitiert von Soziale Phobie: Diagnose nach ICD-10 – Ängste.info) :

Mindestens zwei der folgenden Angstsymptome in den gefürchteten Situationen müssen aufgetreten sein:

  • Vegetative Symptome (Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz, Schweißausbrüche, Tremor, Mundtrockenheit),
  • Symptome, die Brustkorb oder Bauch betreffen (Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl, Thoraxschmerzen, Übelkeit oder abdominelle Missempfindungen),
  • Psychische Symptome (Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit, Derealisations- oder Depersonalisationsgefühle, Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder “auszuflippen”, Angst zu sterben),
  • Allgemeine Symptome (Hitzewallungen oder Kälteschauer, Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle)

Zusätzlich muss mindestens eins der folgenden Symptome aufgetreten sein:

  1. Erröten oder Zittern
  2. Angst zu Erbrechen
  3. Miktions- oder Defäkationsdrang oder Angst davor

Es besteht eine deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten sowie Einsicht, dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind.

So also der nüchterne, pathologische Blick. Um den Bogen wieder etwas weiter zu spannen: Grundlegend scheint das Problem für alle Betroffenen das Gleiche zu sein. Es passt ein bisschen zu dem, was ich in meinem Artikel zur Selbstliebe geschrieben habe: Bin ich so, wie ich bin, gut genug? Und zwar nicht nur, um mich selbst zu akzeptieren, sondern auch, um, je nach Situation, von anderen Menschen gemocht oder als kompetent eingestuft zu werden?

Bild: Rodnae Productions (Pexels)

Leben als Dauerperformance oder Leistungssport.

Ja, so fühlt es sich an. Mein Leben findet irgendwo statt zwischen Schnellsprint und Versteckspiel. Und immer die Frage: Stell ich mich der Situation oder laufe ich davon? Oder bleib ich einfach gleich Zuhause? An guten Tagen quatsche und lache ich mit einer/m meiner Kommiliton*innen im Vorlesungssaal, an schlechten sitze ich ganz außen am Rand und hoffe, dass mich bloß niemand anspricht. Kopf einziehen. Aushalten. Selbes gilt für den Umgang mit Dozierenden. Bloß nicht angucken. An Unterrichtsmitarbeit ist sowieso nicht zu denken. Kein Wunder, dass ich schon im Grundschulzeugnis immer stehen hatte, dass meine Beteiligung am Unterricht zu wünschen übrig lässt.

Damals habe ich das Ganze nur noch nicht begriffen. Wie auch? Auch mit 31 war ich noch nicht schlauer. Ich saß abends Zuhause und war nicht mehr in der Lage aus dem Haus zu gehen. Ich war erschöpft. Überfordert. Immer. Selbst den Müll rauszubringen schien eine Lebensaufgabe, der ich mich kaum gewachsen fühlte. Post öffnen? Schwierig. Beim Arzt, Amt, sonst wo telefonisch einen Termin vereinbaren? Kaum zu schaffen. Freunde treffen oder Menschen in meine Wohnung lassen? Damals, 2017, unmöglich. Die Liste ließe sich endlos weiterführen. Busfahren. Menschen nach dem Weg fragen. Partys. Geburtstagsfeiern. Dumm, dass das ganze Leben aus sozialer Interaktion besteht. Wir Menschen brauchen andere Menschen. Was also, wenn genau das zum Problem wird?

Sehnsucht. Nach Loslassen und Gemeinschaft.

Wie es in dem Video Living with Social Anxiety so schön heißt: “[…] alone can turn into lonley pretty fast.” Ich habe selten etwas gesehen, das es so auf den Punkt bringt, wie dieses Video. Das bin ich. In all den irritierenden Facetten meiner Angst. Aber wer will schon einsam sein? Ich versuche also am Leben teilzunehmen, anderen Menschen Platz darin zu geben. Ich liebe es, tiefgründige Gespräche zu führen und die Perspektive Anderer kennenzulernen. Genieße es, Zeit mit meinen Freund*innen zu verbringen.

Bild: Eliane Dipp (Pexels)

Eine große Hilfe war es, dem Ganzen schlußendlich einen Stempel aufdrücken zu können. Die Therapie hat dabei geholfen. Ich definiere mich nicht darüber, ich bin mehr als meine Angststörung – aber das schwarze Loch, in das ich damals gefallen bin, hat einen Namen bekommen. Alles was einen Namen hat, kann adressiert werden. So habe ich angefangen, mich zurück zu kämpfen.

Nachdem ich es vor 5-6 Jahren kaum länger als 2 Stunden mit Menschen in einem Raum ausgehalten habe, gehe ich nun Vollzeit zur Uni. Auch wenn ich an manchen Tagen zitternd mit meinem Tablett durch die Mensa husche, auf der Suche nach einem Platz im Abseits. Oder bei der Sprechstunde mit dem Professor fast über meine eigenen Worte stolpere, weil ich gar nicht schnell genug fertig werden kann, um wieder gehen zu dürfen. Ich habe Angst vor Kino- und Theatersälen, vor Reisen, vor Veränderungen. Aber ich liebe es, die Welt zu entdecken und mich von Kunst berühren zu lassen. Ich habe Angst vor Menschen zu sprechen und zu scheitern. Aber ich liebe es auf der Bühne zu stehen und mit Anderen meine Liebe zu Kultur und Literatur zu teilen.

Der Weg geht – auch MIT Angst – weiter.

Austherapiert. Das steht nun also in meiner “Patientenakte”. Dass es das nicht ganz trifft, brauch ich wahrscheinlich Keinem zu erklären. Am Besten ist es, sagt man, die Angst als Freund zu akzeptieren und damit weiterzuleben. In der Therapie lernt man unter anderem Das. Oder auch ganz praktische Dinge. In gewissen Situationen sich zum Beispiel zu fragen: Wie würde ein ‘normaler’ Mensch jetzt darüber denken oder handeln? Oder sich den angstauslösenden Situationen zu stellen, um das kognitive Muster zu überschreiben. So lernt man, dass die Dinge nie so katastrophal sind, wie man sie sich ausgemalt hat.

Letzte Woche habe ich mein erstes Referat in Präsenz an der Uni gehalten und ich habe ohne Karteikarten frei mit dem Dozenten über die Werte- und Normensysteme des Schimmelreiters von Theodor Storm diskutiert. In zwei Wochen beginne ich mein Praktikum im Robert Musil-Institut für Literaturforschung, von dem ich seit Jahren geträumt habe. Dort werden ganz viele neue Menschen und Herausforderungen auf mich warten. Und ich werde nicht davonlaufen, sondern wachsen und lernen.

Bild: Leah Kelly (Pexels)

Eine Chance, Dinge anders zu machen.

Vielleicht war ich gestern enttäuscht, weil austherapiert so klingt, als wäre alles zurück auf Null gesetzt. Vielleicht hatte ich gehofft, dass, wenn dieser Moment kommt, ich ein angstfreies, neues Leben beginne. Zu realisieren, dass das nicht so ist, hat mich ein paar Tränen gekostet. Aber ich bin ich. Ich bin echt. Und ich kann auch mit meiner Angst der Mensch sein, der ich sein möchte. Ich muss es nur akzeptieren und vielleicht auf ein paar mehr Dinge achten, als Jemand, der diese Ängste nicht kennt. Jedenfalls steht fest, dass ich mich von ihnen nicht am Leben hindern lassen werde.

Ich möchte mich nicht fühlen, als wäre ich selbst mein eigenes Gefängnis. Ich möchte nicht einsam sein. Und ich möchte nie wieder die sein, die missverstanden wird. Zu gut kann ich mich an Situationen erinnern, in denen ich mich aus Angst nicht zu Menschen an einen Tisch gesetzt oder mich nicht an einem Gespräch beteiligt habe. Oder frühzeitig von eine Feier verschwunden bin. Ich weiß, dass ich damit andere vor den Kopf gestoßen und teilweise desinteressiert, arrogant oder abweisend gewirkt habe. Dabei ist das das Letzte, was ich will. Es ist so ein bisschen Selbsterfüllende Prophezeiung– man verhält sich aus Angst in einer gewissen Situation genau so, dass es zu dem führt, was man vermeiden wollte.

Bild: Ich, by the talented Bianca Funken Photography

Ich bin also ein wandelndes Kunstwerk in progress. Aber sind wir das nicht alle? Dafür braucht sich Niemand zu schämen. Und vielleicht können wir uns ja gegenseitig ein bisschen dabei helfen. Also wenn du mich irgendwo auf der Straße, an der Uni oder sonst wo siehst – sprich mich ruhig an, auch wenn ich den Kopf eingezogen habe. Ich freue mich, dich näher kennenzulernen. Versprochen.


Hinweis: unbezahlte Werbung / unbezahlte Verlinkung
Natascha Huber