Das Flagschiff der Star Wars Reihe im Zentrum einer philosophischen Abhandlung über Ökologie und Partriarchalismus? Klingt nach einem ganz schön wagemutigen Landemanöver – und einem schillernden Abenteuer. Meine Rezension zu Spacecraft (erschienen 2021 bei Bloomsbury).
Zukunft & Cookie Dough Ice Cream
„I’m a pretty laughable guy” sagt Timothy Morton über sich selbst, ein Philosoph sei schließlich auch immer ein absurder Clown. Diese Aussage passt ganz gut zu einem der sicher schönsten und amüsantesten Sätze, die ich jemals darüber gelesen habe, was auf diesem Planeten alles schiefläuft, und der sich im Mittelteil von Spacecraft wiederfindet:
The past is just all the crumbs of all cookies that crumbled so far. But all the mountains of cookie crumbs in all world don’t imply that there isn’t cookie dough ice cream.
Spacecraft S. 76
Möglicherweise ist der Satz nicht zuletzt dadurch motiviert, dass es sich bei Star Wars um einen jahrzehntelangen Kassenschlager in den Kinos handelt, wer weiß. Vor Allem geht es aber um die Frage nach der Zukunft und welche Rolle wir darin spielen. In seinem Vortrag How to Land on Earth im Rahmen der CoHappiness Konferenz berichtet Morton von seinen Gesprächen mit den oft verzweifelten Jugendlichen der Generation C. (Info: Morton versteht sich als non-binäre Person und verwendet bevorzugt die Pronomen they/them. Da er aber nicht darauf besteht, ist der Artikel zur einfacheren Verständlichkeit mit männlichem Pronomen verfasst, trotzdem der kurze Hinweis an dieser Stelle.)
Es sei nicht zielfördernd, die junge Generation das Fürchten zu lehren, sondern besser, ihr eine Zukunftsperspektive zu geben: „Futurality ist the possibility that things could be different.“ Und davon sind wir alle ein gleichwertiger Teil. Für Morton sind Menschen in einem positiven Sinne Objekte, die Spuren der Vergangenheit tragen und damit offenlegen, wie sie zu dem geworden sind, was sie in der Gegenwart darstellen.
Dabei unterscheiden sie sich nicht von Gegenständen oder Abstrakta wie Gedanken. Das Gute daran, so Morton, ist, dass wir auch unsere Zukunft fühlen und somit verändern können. Sie ist wie das, was immer ums Eck ist. Er vergleicht es mit einem langen Hotelflur, den wir entlanglaufen – man weiß, dass es weiter geht, man weiß nur nicht wie. Dieses Wissen reiche aber aus, um zu erkennen, dass wir mit der Zukunft verbunden sind und einen Einfluss darauf haben. Verbundenheit scheint eines von Mortons Hauptanliegen per se zu sein.
Für ihn ist klar, würden wir Menschen uns mehr miteinander verbunden fühlen, würden wir auch eine bessere Beziehung mit der Welt und all ihren Lebewesen haben. Deswegen sind die Wurzeln allen Übels erst mal bei unseren westlich-geprägten Konzepten zu suchen: Patriarchalismus, Rassismus, Privatbesitz. Sie alle resultieren aus dem Vorgang der Objektivierung.
Dualität als Grundproblem der Gesellschaft
Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt führe fast immer zu einer Master-Slave-Dualität, wie Denise Ferreira da Silva in „Toward a Global Idea of Race“ beschreibt, und die Morton in Spacecraft wieder aufgreift. Dabei bekomme ein „Objekt“ diesen Status erst durch die Einbettung in gesellschaftliche Strukturen zugewiesen, welche wiederum von Machtdynamiken dominiert sind. Es wird über seine Erscheinungsform oder seinen Nutzen definiert und somit zu etwas für Jemanden. Darauf ließe sich auch die lange Geschichte der Sklaverei zurückführen. Etymologisch stammt der Begriff von dem antiken Wort „cattle“ ab, welches gleichermaßen als Bezeichnung für Kühe, Schafe, Sklaven, Besitztum, Frauen und Kapital verwendet wurde. So habe zum Beispiel Aristoteles, basierend auf seiner Theorie der Teleologie, Alexander dem Großen erklärt, dass Mazedonier dafür gemacht seien, die anderen/andersartigen – in diesem Fall die sogenannte „Barbaren“ – zu versklaven.
Das mag vielleicht etwas verkürzt gedacht erscheinen, macht aber durchaus Sinn. Wert(ung) und Beschreibung haben ganz oft etwas mit Nutzen/Benutzung zu tun. Die wahre Essenz bleibt dabei jedoch außer Acht. Mortons Beispiel eines Plastikbechers verbildlicht das sehr einfach: Ein Plastikbecher ist Plastik zu einem Becher verarbeitet und zum Trinken genutzt, daher gerechtfertigt. Aber wie lange ist der Plastikbecher ein Plastikbecher? Und wie lange ist er Müll und somit eine schädliche Substanz im Naturkreislauf?
Morton hat sich für den Millennium Falcon und dessen Interaktion mit dem Hyperspace entschieden, um diese funktionsorientierten Strukturen und deren möglichen Aufbrechung zu erläutern. Der Millennium Falcon ist nämlich erst mal eines: Gefundener Müll anstatt Hochglanz-Hightech-Raumschiff. Für Morton ist das Zusammenspiel des Falcon und dem Hyperspace daher radikal demokratisch:
Punkt 1: Hyperspace kann durch viele verschiedene Zu- und Ausgänge betreten und verlassen werden.
Punkt 2: Die Piloten des Millennium Falcon sind unsicher, ob sie es schaffen, meistern es aber am Ende.
Punkt 3: Das Raumschiff wurde über die Jahre hinweg von vielen Menschen verändert und angepasst. Genau durch diese konstante Veränderung ist es, was es im Jetzt ist: Ein Geschenk.
Punkt 4: Das Kontrollcenter ist nicht im Zentrum des Raumschiffes und für die Superhelden gemacht. Es ist liegt außerhalb am Rand, wo jeder Normalo etwas leisten kann.
Punkt 5: Han and Chewie, die Piloten, sind nicht von der Upperclass. Durch die Challenge und ihren Beitrag konnten sie aber ihre Lebensqualität verbessern.
Punkt 6: Das Raumschiff kann von Jeder*m geflogen werden, egal welcher Herkunft, Rasse, Bildung.
Was hat das also mit uns zu tun und der Lage, in der sich die Welt mit Klimawandel und anderen Katastrophen ebenfalls in Lichtgeschwindigkeit auf eine Zukunft zubewegt, von der wir manchmal überfordert sind?
Ein Übersetzungsversuch – nicht nur sprachlich
Ich verstehe unter den genannten Punkten sowohl ein Friedensangebot als auch eine Orientierungshilfe. Ein nettes It’s not too late and you can be part of it. Eben das Gegenteil der Angstmache, die Morton verurteilt und zu der er sich teils selbst schuldig bekennt. In mehreren Vorträgen betont er, dass er sein Buch Hyperobjects so wohl nicht mehr schreiben würde. Mit den Begriffen, die er darin geprägt hat, würde es nur mehr dieser Ängste schüren. Außerdem kenne nun seit Corona sowieso jeder dieses „Hyperfeeling“ und brauche keinen Begriff mehr dafür. Es ist dieses Gefühl, dass eine Entität Raum und Zeit vollständig durchdringt, sodass wir es nicht mehr begreifen, geschweige denn logisch in Maßzahlen kategorisieren, können. Übersetzt auf unsere Gesellschaft verstehe ich Mortons Idee der Demokratie von Hyperspace und dem Millennium Falcon so:
Punkt 1: Es ist nicht wichtig, wo und wann wir anfangen zu agieren. Auch nicht zu fragen, was der richtige Ort oder die richtige Zeit ist. Richtig ist anzufangen, nur das zählt.
Punkt 2: Es ist ok, nicht zu wissen, ob wir es schaffen können und wie. Trotz dieser Unsicherheiten ist es aber möglich.
Punkt 3: Die Menschheit hat die Welt über Jahrtausende verändert und zu dem gemacht, was sie heute ist. Doch auch genau dieser Ausgangspunkt und die schon immerwährenden Veränderungen zeigen, dass eine Veränderung möglich ist.
Punkt 4: Nicht die frontale Konfrontation der Großen allein ist zielführend, sondern jeder kann im Kleinen seinen Beitrag leisten.
Punkt 5: Auch hier: Die Superhelden bringen nicht unbedingt die größten Veränderungen. Gesellschaft und Sozialklassen sind flexible Gebilde und in Bewegung. Wer wir sind wird auch durch unser Handeln definiert, nicht nur durch unsere Herkunft.
Punkt 6: Das geht wiederum einher mit Gleichheit. Jeder ist willkommen, Jeder kann helfen, alle sind gleichwertig- so bilden Menschen eine Gemeinschaft in der angestrebten Welt ohne Rassismus, Patriarchalismus und Objektivierung.
Little Nuggets of Beauty – die Schönheit liegt in den Buchstaben
All das ist lediglich die Quintessenz des Schlusses, zu dem Morton im letzten Kapitel „Anyone“ kommt. Der Weg dorthin ist eine Abenteuerreise durch kleine leuchtende Sprach-, Begriffs- und Erkenntnisgalaxien, von denen ich euch noch eine ganze Menge erzählen wollte. In erster Linie würde ich euch aber sowieso empfehlen euch selbst ein Bild zu machen. Links findet ihr am Ende des Beitrags. Hier nur noch ein, zwei kleine Teaser.
Galaxie 1: Das Selfie des 18. Jahrhunderts
Menschen haben auch damals schon versucht, das perfekte Bild einzufangen. Deshalb wurde mit dem Claude-Glas gearbeitet. Durch seine bestimmte Form und Färbung konnte die Erscheinung der Natur „optimiert“ und wie in einem Gemälde widergespiegelt werden. Um den Effekt zu erreichen, wurde das Glas genau entgegengesetzt zur favorisierten Selfie-Kameraposition gehalten: Unten schräg links statt oben schräg rechts. Der Begriff dazu ist Picturesque . (S. 81) Natur als Wunschprojektion ist auch eines der großen Themen in Mortons Buch The Ecological Thought.
Galaxie 2: Making Love
Eine weitere Form von Dualität, die mit Master-Slave-Verhältnissen in Verbindung steht, ist die von Aktiv vs. Passiv. Morton erklärt, warum „making“ Hyperspace eine ganz wunderbare Mitte davon ist und warum es deswegen sinnvoll sei, Dinge nicht immer aktiv voranzutreiben oder das, was wir grundlegend als passiv beschreiben, wirklich als Passivität zu labeln. Er vergleicht es mit dem Zusammenspiel einer Band. Damit es gelingt, müssen die einzelnen Musiker:innen auch zuhören und nicht nur spielen. Diese Passivität des Zuhörens ist also eigentlich ein aktiver Vorgang. Einen weiteren Vergleich, den er dazu findet, ist der der körperlichen Liebe:
‚Making‘ sounds a bit like the verb is used in ‚making love‘ – achievement mixed with creation, nicely poised in the middle of the patriarchal binary of active and passive.
Spacecraft S. 62
Und damit entlasse ich euch aus dieser Buchrezension, Gedankensammlung, Philosophie-Entdeckungsreise, was auch immer. Wenn ihr mehr über Timothy Morton wissen oder vielleicht mal reinhören wollt, kann ich euch das Video zur oben genannten Landing on Earth Session ans Herz legen: Landing on Earth . Oder ihr wagt euch mit mir an ein weiteres Buch – auf meiner To-Do-Liste steht nun z.B. Dark Ecology ganz weit oben.
Mehr zu Timothy Morton findet ihr auf seinem Instagram Account: Timothy Morton (@tim303) • Instagram-Fotos und -Videos
Einen kurzen Überblick zum Thema Nichtbinäre Geschlechtsidentität findet ihr hier: Was ist non-binäres Geschlecht? | nonbinary.ch
Und wenn ihr noch mehr Buchrezensionen lesen wollt, geht’s hier lang:
Underland. Eine Zeit- und Weltreise der anderen Art – Natascha Huber (natascha-huber.de)
Nabokov: Dolores, Lolita und diese Sache mit den Namen – Natascha Huber (natascha-huber.de)
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