Neue Sitten, neue Literatur. Nach dem rigiden Ansatz des Barocks, der sehr an Glauben, Ordnungsstrukturen und Kollektivismus orientiert war, wurde es nun Zeit umzudenken. Welche Ideen dafür wegebnend waren, welche Kontroversen es gab, und was Lyrik und der gute alte Knigge gemein haben, verrat ich euch in diesem Blog über das Literatursystem der Aufklärung (ca. 1720 bis 1790).
Eigenverantwortung & Wissenschaft
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ – mitunter einer der berühmtesten Sätze von Immanuel Kant. Was wahrscheinlich weniger bekannt ist: Als Kant diesen Schluss zieht, neigt sich die Aufklärung schon dem Ende zu. Es war sozusagen sein Resümee über eine Epoche, die versucht hat sich vom Absolutismus zu lösen und mit Vernunftdenken und eigenen Erfahrungen ihren Weg zu finden.
Ausschlaggebend waren dafür neben der Philosophie, die mit Leibniz, Descartes und Hume ganz unterschiedliche Ansichten zu Tage brachten, der Beginn der Naturwissenschaften. Man kam zu dem Schluss, dass jeder Mensch bereits im Diesseits seine Erfüllung finden kann und Gläubigkeit sehr wohl mit Wissen(schaft) vereinbar ist. So erkannte man in den Wundern der Natur Gottes Wirken und deren empirische Erforschung wurde als Gottes-Dienst angesehen. Auch König Friedrich der Große bot den Bürger:innen nach seinem Regierungsantritt 1740 großen Freiraum. Jeder sollte nach eigenem Maßstab glauben dürfen, weshalb er die Religionsfreiheit in Deutschland einführte.
Zu den vielfältigen religiösen Strömungen gehörten unter anderem der Deismus, der Pietismus und die Physikotheologie. Während der Deismus davon ausging, dass sich Gott inzwischen von der Welt abgewandt hat, setzten die Pietisten auf Gottesnähe durch spirituelles, tief-emotionales Erleben. Die Physiktheologen bezogen sich dagegen auf das bereits erwähnte Erkennen Gottes in seinen Wundern.
Auch in punkto Aufstieg und Bildung wurde nun auf den einzelnen Bürger gesetzt. Ganz nach dem von Kant geprägten Begriff des Kategorischen Imperativs sollte der Einzelne nach dem Idealbild des Menschenfreundes geformt werden. Dabei sollte sein Handeln durch das Zusammenspiel von Rationalität, Emotion und Moral bestimmt sein. Natürlich sahen sich neben den Philosophen und Wissenschaftlern auch die Schriftsteller dazu verpflichtet, den Menschen nach dem gegebenen Vorbild zu leiten. Welche Bücher wurden also in der Aufklärung geschrieben? Und wie kommt’s, dass wir heute alle in der Schule mindestens einmal das Vergnügen mit Gotthold Ephraim Lessing haben?
Gottscheds Poetologie und Lessings Bürgerliches Trauerspiel
Nach den überbordenden Stilmitteln des Barock war die Literatur der Aufklärung vor Allem um Klarheit in Sprache und Ausdruck bemüht. Die Autoren wollten von ihrem (Lese-)Publikum verstanden werden und einen positiven Einfluss auf sie ausüben. Daher wurden hauptsächlich Dramen und andere „belehrende“ Formen wie Fabeln, fiktiven Briefromane oder Abenteuer- und Schelmenromane veröffentlicht.
Bezüglich des Dramas setzte Johann Christoph Gottsched mit „Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ im Jahr 1729 neue Regeln auf, die sich an Aristoteles „Dramatischer Einheit“ orientierten. Zu Gottscheds Poetik gehörte zum Beispiel, dass es eine historische Heldenfigur im Zentrum geben muss. Dem hatte Lessing mit der Erfindung seines Bürgerlichen Trauerspiels einiges entgegenzusetzen. Überzeugt davon, dass die Zuschauer am meisten durch Empathie und Identifikationsgefühl beeinflusst werden können, sollte für ihn der Bürger mit seinen Alltagsproblemen im Fokus stehen. Statt einer strikten Trennung von Heldenfiguren in Tragödien und bürgerlichen Akteuren in Komödien, setzte er den Helden von nebenan ins Zentrum der Handlung. Damit hebelte er die gängige Ständeklausel aus und führte die Dramenwelt mit „Miss Sara Sampson“ und „Nathan der Weise“ in eine neue Ära.
Die 3 Pfeiler der Aufklärungslyrik
Neben der starken Präsenz von Epik und Drama ging die Lyrik in der Aufklärung etwas unter. Dennoch gab es mit der Naturlyrik, den Lehrgedichten und der Anakreontik neue Formen, die die Ideale der Aufklärung aufgriffen. Besondere Beliebtheit erfreute sich die Naturlyrik, die mit Albrecht von Haller und Barthold Heinrich Brockes ihre bekanntesten Vertreter ins Rennen schickte. Während Haller den Neuerungen der Epoche kritisch gegenüberstand, fand von Haller in der Aufwertung des Irdischen und der Lobpreisung der Schöpfung seine bestimmenden Themen. So erkannte er in „DAS FIRMAMENT“ zum Beispiel, dass er, trotz der Übermacht des Universums, in der er sich zu verlieren glaubte, in Gott sicher ist. Die Lehrgedichte schlugen eher in die Richtung von Brocke – sie setzten sich z.B. kritisch mit den Naturwissenschaften auseinander.
Als dritte Säule der Aufklärungslyrik lässt sich die Anakreontik festmachen. Die Bezeichnung geht auf den späthellenistischen Dichter Anakreon zurück, der vor Allem Texte über Geselligkeit, Liebe und Heiterkeit verfasste. Dazu passend beschäftigten sich die Dichter der Aufklärung in ihren anakreontischen Texten, die sie selbst im Übrigen nur als Schreibübungen betrachteten, mit Lebens- und Liebesgenüssen. Sie schrieben über Feste, Feiern, Erotikphantasien oder Rollenspiele und erfreuten sich an der Leichtigkeit des Lebens.
Funfact: Knigge
Neben Spaß war man auch auf Anstand und gutes Benehmen bedacht. Beides galt als „Seelenspiegel“ des galanten Bürgers der Aufklärung. Mit ihren Werken haben Christian Thomasius und Adolph Knigge einen wichtigen Leitfaden dafür geliefert und vervollständigten die neuen, relevanten Forschungsgebiete. Neben Naturwissenschaft und Philosophie bildete die Anthropologie den dritten Orientierungspfeiler dieser Epoche.
Mit seiner Sittenlehre „Über den Umgang mit Menschen“ hat Knigge 1788 einen relevanten Beitrag geleistet, der weit in die Zukunft weiterentwickelt wurde. So tummelt sich noch heute eine Ausgabe aus dem Jahr 1956 in meinem Bücherregal – allerdings ist die natürlich inhaltlich auch nicht mehr tagesaktuell. Aber das ist ja wieder ein ganz anderes Thema. Trotzdem: Der Ur-Gentleman von Gestern ist so ein bisschen die Erfindung der Aufklärung. Irgendwie ein schöner Gedanke, mit dem ich euch nun auch in das nächste Literatursystem entlassen möchte: Die Empfindsamkeit.
Den Artikel zu dem vorausgehenden Literatursystem Barock findet ihr hier: Literatursystem Barock (Teil 1) – Natascha Huber (natascha-huber.de)
Mehr zu meinem Studium Sprach- und Textwissenschaften könnt ihr hier nachlesen: SpuTe – eine Alternative zur Germanistik? – Natascha Huber (natascha-huber.de)
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