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Wie lässt sich Schmerz kommunizieren, wenn das Gegenüber nicht in der Lage ist, ihn zu spüren? Valerie Fritschs zweiter Roman Herzklappen von Johnson & Johnson erzählt die Geschichte von Alma, die von Schweigen umgeben aufwächst: Das Schweigen ihrer Familie über die Vergangenheit des Großvaters, einem Kriegsheimkehrer, der mehrere Jahre in einem Gefangenen-lager in der kasachischen Steppe verbrachte. In diese Sprachlosigkeit hinein geboren wird ihr Sohn Emil. Mit seinem seltenen Gendefekt, der ihn keinerlei Schmerz empfinden lässt, stellt er seine Eltern vor ganz neue Heraus-forderungen. Eine Geschichte über Herkunft, Generationstraumata und Abschiede.

Wenn Zuhause nur Bühnenkulisse ist…

Müde Marionetten mit einem schwarzen Fleck auf dem Herzen, die um ihr Leben spielten […]” – so nimmt Alma ihre Familienmitglieder wahr, wenn sie sie bei Familienfeiern beobachtet, während sie sich über ihr Leben austauschen. Eine Farce, wie das junge Mädchen schnell merkt, die nur darauf abzielt, das Familienkonstrukt zusammenzuhalten. Die meiste Zeit ihrer Kindheit verbringt Alma in einem großen, leeren, ausstaffierten Haus. Die einzige Abwechslung zu dieser leblosen Kulisse bieten die nächtlichen Ausbrüche der Mutter, wenn sie schlafwandelnd durchs Dorf geistert und kurz ihren Perfektionswahn vergisst.

Dabei spielen die Eltern in der Geschichte rund um Alma, wie in ihrem Leben selbst, kaum eine Rolle. Sie sind Geister, ein Bindeglied zwischen ihr und ihren Großeltern, mit denen sich das junge Mädchen hauptsächlich beschäftigt. Und mit den Geistern, die ihren Großvater begleiten, die sie aber noch nicht begreifen kann:

Noch viele Jahre später erinnerte sich Alma, wie sie an trägen Sonntagnachmittagen die Finger und nackten Zehen der Anwesenden mit einem Reim abzählte und stets ins Stolpern geriet, wenn sie beim Großvater angekommen war, weil sie an seinem rechten Fuß bloß drei Zehen fand. Dass womöglich nicht nur an dem Mann etwas fehlte, aber es überall mehr gab, als man sie sehen ließ, wurde für Alma ein vager Gedanke, ein unbestimmtes Kindheitsgefühl […]

Herzklappen von Johnson & Johnson, S. 10

Erst Jahre später, als Alma selbst erwachsen und Mutter eines Sohnes ist, beschließt die Großmutter – einst eine stolze, herrische jung Frau – ihr Schweigen zu brechen. Sie erzählt Alma von den Menschen, die sie in ihrem Leben vor, nach und während des Kriegs begegnet ist. “Zeitkapselfremde”, über deren Vergangenheit auch Alma langsam die fehlenden Puzzlestücke findet, um die Lücken in ihrer Herkunftsgeschichte zu schließen und Verständnis für ihre Familie aufzubringen. Gleichzeitig versucht sie zusammen mit ihrem Mann ihrem Sohn mit den verrücktesten Methoden zu vermitteln, wie sich Schmerz anfühlt. Zum Einen, um ihm klarzumachen, welches Handeln oder welche Verletzung für ihn lebensgefährlich sein können. Zum Andern, um sein Gefühl für das Weh anderer Menschen zu schulen – körperliches und seelisches. Am Ende machen sie sich gemeinsam auf den Weg, um nach der großen Wunde ihrer Familie zu suchen: Die Geschichte ihres Großvaters und dem russischen Gefangenenlager in der kasachischen Wüste.

Das Gestern. Überschriebene Spuren.

Wie die Geschichte ausgeht, werde ich euch natürlich nicht spoilern. Obwohl es recht offensichtlich ist, wie die Reise enden wird. Nichtsdestotrotz sind es die letzten Seiten des Buches, die mich noch einmal besonders abgeholt haben. Vielleicht gibt euch ja auch die Überschrift eine kleine Idee. An vielen Stellen hat mich Fritschs Buch jedenfalls an Atemschaukel von Hertha Müller erinnert. Mit ihrer Art von dem Großvater als aus der Zeit Gefallenen mit all seinen Hoffnungen und Abgründen zu schreiben, kommt der verstörenden und tieftraurigen Darstellung des Lageralltags in Hertha Müllers Roman sehr nahe. Während Müllers Roman jedoch vorrangig im Lager spielt, gleicht Valerie Fritsch’s Herzklappen von Johnson & Johnson ab der zweiten Hälfte eher einer Roadnovel.

Bild: Soren Paritosh (Pexels)

Aber selbst in Bewegung gibt es kein Entrinnen vor Tod und Verlust. Sie begegnen uns überall. So auch Alma, Friedrich und ihrem Sohn, die auf ihrer Reise mitten im Nirgendwo eine Prozession passieren, bei der ein Junge schreiend über dem Bild eines anderen Jungen im Staub kniet:

Es war der elektrisierende, pupillenweite Ton eines andauernden Zerbrechens, eines Schmerzes, der sich noch auf den Fremdesten übertrug. […] Wie merkwürdig es war, dass Kinder tote Kinder kannten, dachte Alma, dass Kinder tote Kinderfreunde hatten, sie schon Hand in Hand gingen mit etwas so Großem wie dem letzten Verschwinden und es nicht aufsparen konnten für später.

Herzklappen von Johnson & Johnson S. 56 f.

Auch im nächsten Dorf scheint der Tod bis an die Menschen heranzureichen. Alma bemerkt, wie dort die Grenze zwischen dem Friedhof und den belebten Häusern langsam zu schwinden beginnt, der Bereich von Leben und Tod kaum merklich ineinander übergehen. Sowohl Gräber als auch Wohnzimmertische schmücken weiße Lilien. Und auch beim weiteren Lesen wird Einem klar, es gibt die unterschiedlichsten Formen, in denen uns unsere Sterblichkeit vor Augen gehalten wird. Wahrscheinlich ist das eine dem anderen einfach von Natur aus inhärent. Dazwischen bleiben diese lichten Momente des Glücks und der Liebe, in denen wir uns – wie Alma – zu finden versuchen.

Ein Buch wie ein Gefühl – und ein kleine Wunderkiste der Sprache.

Es sind diese feinen Beobachtungen, die Fritschs Roman zu dem machen, was er für mich ist: Mehr Gefühl als temporeiche Geschichte. Über gerade mal 175 Seiten werden mehrere Jahre aufgespannt und gleichzeitig in Rückblicken die Vergangenheit aller Figuren beleuchtet. Da bleiben an vielen Stellen Lücken. Es wird nicht aus-erzählt, es wird nicht geredet – der ganze Roman kommt ohne einen einzigen Dialog aus. Auch das scheint programmatisch. Letzten Endes geht es um den Umgang mit dem Generationentrauma, das gleichzeitig die Unmöglichkeit einer Kommunikation mit sich bringt, die das Geschehene angemessen in Worte fassen oder zwischen den Generationen für Verstehen sorgen kann. Der innere Schmerz des Großvaters, die Narben des Krieges, an denen er selbst auch Mitschuld trägt, werden den äußeren, nicht spürbaren Verletzungen von Emil gegenübergestellt.

Bild: Kathryn Archibald (pexels)

Daneben geht, es wie obige Beispiele zeigen, um den Ur-Schmerz an sich. Tod. Verlust. Das Fehlen von Dingen. Abwesenheit. Einsamkeit. In welchen Formen begegnet uns unsere Sterblichkeit? Wie können wir Frieden mit ihr schließen? Und können wir das überhaupt? Und was bedeutet es ein Glied in einer Kette von Vorfahren und Nachfahren zu sein? Also wer bin ich, woher komme ich und was bleibt von mir am Ende, wenn ich selbst einmal die Person bin, von der andere für immer Abschied nehmen müssen?

Sprachlich ist Herzklappen von Johnson & Johnson, wie auch schon der Vorgänger Winters Garten satt und barockig schwer, reich an Metaphern und Vergleichen. Der Roman fokussiert ein generell metaphorisches Erzählen, ohne jegliche Dialoge. Die Figuren werden nur über ihre ungewöhnlichen Eigenheiten und bewegenden Abgründe sichtbar gemacht. Wer Sprache und bildhaftes Experimentieren mag, wird davon berührt und inspiriert sein – solange er das ein oder andere leicht pathetische Bild, den ein oder anderen Vergleich zu viel, ignorieren kann.


Wenn ihr Lust habt, die Bücher von Valerie Fritsch selbst zu lesen, hier lang: Herzklappen von Johnson & Johnson. Buch von Valerie Fritsch (Suhrkamp Verlag)

Winters Garten. Buch von Valerie Fritsch (Suhrkamp Verlag)

Eine andere Buchrezension findet ihr zum Beispiel hier: Timothy Morton: Ökologie & Star Wars – Natascha Huber (natascha-huber.de)

Und wenn ihr euch auf Halloween einstimmen wollt, ist vielleicht das das Richtige: Bram Stokers Dracula: Frauenkonzeption oder die Epoche der Romantik – Natascha Huber (natascha-huber.de)

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Natascha Huber