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I have crossed oceans of time to find you… Nicht der einzige Satz der mein Herz dezent schmelzen lässt, als ich vor einigen Monaten fasziniert Francis Ford Coppolas Verfilmung von Bram Stokers Dracula sehe. Der garstige Vampir also eigentlich ein leidender alter Mann, der keine Müh und Not scheut und sich sogar in einen jungen, attraktiven Mann verwandelt, um die Reinkarnation seiner Frau für sich zu gewinnen? Nicht so ganz, wie die darauffolgende Lektüre gezeigt hat. Hier ein paar Einblicke zum Schauerklassiker zum heutigen Schauertag.

Wie war schnell nochmal die Handlung?

Die Grundgeschichte kennt wahrscheinlich jeder. Ich habe aber selbst die Erfahrung gemacht, dass unsere Vorstellungen von Dracula und Van Helsing dezent medien-verwaschen sind. Deshalb war ich auch sehr überrascht, als ich in der Verfilmung von 1992 eine ganz andere Geschichte serviert bekam. Und das mit dem Hinweis, dass sie dem Original am nächsten komme. Werfen wir also einen kurzen Blick auf die Romanhandlung.

Jonathan Harker, ambitionierte Rechtsanwalt und mit der fürsorglichen, jungen Minna verlobt, wird von Graf Dracula nach Transsylvanien eingeladen. Dieser hat nämlich ein Haus in London erworben und will noch einige rechtliche Dinge klären. In der Burg angekommen, stellt Jonathan jedoch schnell fest, dass etwas mit dem Grafen nicht stimmt. Als dieser einige Tage später im Land unterwegs ist, nutzt er die Gelegenheit zur Flucht. Schwer geschwächt schafft er es bis zu einem Kloster in Budapest, wo ihn die Schwestern vor Ort einige Monate pflegen . In der Zwischenzeit schnappt sich Dracula die lebensfrohe Freundin von Minna – Lucy Westerna – und macht sie zu einer Untoten, die trotz aller Anstrengungen von ihren drei Verehrern und dem hinzugerufenen Dr. Van Helsing nicht mehr gerettet werden kann.

Bild von Vladimir Konoplev (Pexels)

Nach der Rückkehr von Jonathan erscheint Dracula eines Nachts auch bei Minna, die er sich als ewige Gefährtin auserkoren hat. Daher zwingt er sie von seinem Blut zu trinken, nachdem er sie selbst gebissen hat. Um Minna vor ihrem schrecklichen Schicksal zu bewahren, machen sich die Männer daraufhin auf den Weg: Sie wollen Dracula stellen. Minna möchten sie dabei erst einmal in Sicherheit zurücklassen. Als sie aber erkennen, dass sie durch ihre Verbindung zum Grafen nützliche Hinweise geben kann, kommt sie mit auf die lange Reise. Kurz bevor Dracula den Schutz seiner Burg erreicht, können die Männer ihn schlussendlich abfangen und töten ihn, sodass auch der auf Minna lastende Fluch aufgehoben ist.

Bram Stokers Klassiker: Ein Reise-, Brief- und Schauerroman

Formell hat Bram Stoker da schon ein kleines Leseerlebnis gezaubert. Die Handlung der Geschichte wird vollständig über Briefe, Tagebuchnotizen, Zeitungsartikel und Aktenvermerke übermittelt, die teilweise aber auch den Figuren untereinander zugängig gemacht werden. So kommt es zu einem gut voranschreitendem Erzähltempo und einer vielseitigen perspektivischen Ausleuchtung des Geschehens, obwohl es keine direkte Erzählinstanz gibt. Auf Wikipedia wird kurz kritisiert, dass die Figuren dadurch wenig differenziert klingen und sich einer ähnlichen Sprache bedienen. Dem kann ich jedoch nicht zustimmen. Ich habe das Buch auf Englisch gelesen und sehr deutliche Unterschiede in der Kommunikation der einzelnen Charaktere erkennen können.

Eine große sprachliche Freude sind die Passagen, in denen die einfachen Leute zur Sprache kommen. Sei es der Zoowärter, der zum Ausbruch eines Wolfes befragt wird, oder die Transportmitarbeiter, die die Kisten mit Draculas Erde verladen haben. Sie wurden in ihrem spezifischen Slang verschriftlicht und so sichtbar in einer anderen Gesellschaftsschicht als Minna, Jonathan, Van Helsing & Co verortet.

Konzepte der Romantik: Ähnlichkeit mit Eichendorffs Marmorbild

Literarisch reiht sich Stoker’s Dracula in die Tradition der vielen Vampirromanen ein, die sich während der Romantik – vor allem im Bereich der Schwarzen Romantik oder dem Genre der Schauerromane – entwickelten. Obwohl sich die Romantik offiziell von ca. 1795-1848 über ganz Europa erstreckt, fällt auch Stokers Werk von 1897 noch in diesen Themenbereich.

Abbey Whitby, Vorbild für Carfax Abbey in Stokers Dracula (Bild: Tim Hill, Pixabay)

So ein bisschen hat mich das Ganze an die Geschichte rund um den Protagonisten Flori in Joseph von Eichendorffs berühmter Novelle Das Marmorbild erinnert. Ohne hier groß auf das Werk einzugehen, will ich euch kurz von der ihm zugrundeliegenden Initiationsgeschichte erzählen. Sie scheint mir auch eine Erklärung für die Aspekte in Dracula zu sein, die ich später noch mit etwas kritischerem Blick ansprechen möchte. In der Initiationsgeschichte geht es darum, dass ein Protagonist sich im Verlauf der Handlung vom Jüngling zum Mann entwickelt.

Wie das genau aussieht, hängt schwer davon ab, was jeweils als erstrebenswerte Männlichkeit konstatiert wird. Im Marmorbild ist es eine durch die Protagonistin Bianca verkörperte domestierte Sexualität und ein Verankert-Sein im christlichen Glauben. Um dorthin zu gelangen, muss Flori der Verführung der Venus, die zugleich das Heidentum repräsentiert, widerstehen. Auffällig in Texten der Romantik ist die Figur der Frau an sich, die als Katalysator dieser Entwicklung fungiert, dabei selbst jedoch relativ handlungsunfähig bleibt.

Und da wären wir nun auch bei den Frauenfiguren in Stokers Dracula. Obwohl sie selbst durch “eigene” Aussagen zu ihrer Charakterisierung beitragen, sind es explizit Van Helsings Äußerungen, die werten, was hier das erstrebenswerte Frau- oder Mannsein ausmacht.

Lucy Westerna als Bild von Verführung und Emanzipation

In einem ihrer Briefe an Minna schreibt Lucy: “Why can’t they let a girl marry three men, or as many as want her, and save all this trouble?” Gut gemeint ist dabei aber nicht immer gut gemacht, würde die Figur Van Helsing jetzt wohl sagen. Die verspielte Lucy wird nämlich von sage und schreibe drei Männern umgarnt. Dabei will sie keinem so recht das Herz brechen, auch wenn sie sich insgeheim schon für Arthur Holmwood entschieden hat. Nicht nur das. Sie schreibt weiter, dass irgendwann in der Zukunft sowieso die Frau den Heiratsantrag machen wird und nicht mehr der Mann. Dass das nicht zu der angemessenen Denkweise einer Frau der Zeit passt zeigt sich an Minna. Sie hat sich schon früh für Jonathan entschieden und ist zudem in schweren Tagen fest an der Seite ihres Geliebten. So weiß auch Van Helsing festzustellen:

She is one of God’s women fashioned by His own hand to show us men and other women that there is a heaven where we can enter, and that its light can be here on earth. So true, so sweet, so noble, so little an egoist.

Van Helsing über Minna in Dracula, Bram Stoker

Verfolgt man den Ansatz, der bei uns an der Uni unterrichtet wird, werden Figuren durch die Narration für Fehlverhalten sanktioniert. In einfachen Worten heißt das, dass der Figur etwas zustößt, was man als Strafe für ihr Handeln werten kann. Das muss nicht offensichtlich betont werden, ist aber doch eine deutliche Message des Textes. So ist es nicht verwunderlich, dass Lucy zwar genau wie Minna gebissen wird, dann aber nicht mehr gerettet werden kann. Der Text selbst liefert die Bestätigung, dass es keine Rettung hätte geben können. An einer Stelle heißt es: “Oh, if we had only had them earlier we might have saved poor Lucy! Stop; that way madness lies!”. Jeder Gedanke an einen anderen Ausgang mit Lucy wird somit als Unsinn abgekanzelt.

Aber auch schon als Lebende werden Lucy eher weniger seriöse, oberflächliche Attribute zugeschrieben. Nach ihrem “Tod” erfahren diese dann noch eine Steigerung. So lässt der Bestatter verlauten, dass sie wirklich einen entzückenden Leichnam abgebe und dem Ruf des Hauses sicherlich zu Gute kommen werde. Auch als wandelnde Untote werden die äußeren Merkmale ins Zentrum gesetzt, wenn auch nun zu einer überzeichneten Weiblichkeit verwandelt, von der Gefahr ausgeht:

She seemed like a nightmare of Lucy as she lay there, the pointed teeth, the blood stained, voluptuous mouth, which made one shudder to see, the whole carnal and unspirited appearance, seeming like a devilish mockery of Lucy’s sweet purity.

Dracula, Bram Stoker
Beispielbild von I’ll never tell auf Pixabay

Ganz anders bei Minna, bei der Van Helsing erneut ihren besonderen Stellenwert betont. Sie sei außergewöhnlich, da Gott sie nicht nur mit einem weiblichen Herzen, sondern auch mit einem männlichen Hirn gesegnet habe. Und genau deswegen sei sie von Gott zu etwas Besonderem bestimmt. Von daher rette sie, wer kann. Wie das aussieht, davon hat er natürlich auch eine genaue Vorstellung. Auch davon, was Männer, die dem gewachsen sind, ausmacht. So beschreibt er Quincey, der den Tod Lucys stillleidend erträgt als moralischen Wikinger: “If America can go on breeding men like that, she will be a power in the world indeed.”

Minna selbst hat trotz ihrer Sonderstellung kein wirkliches Mitspracherecht. Sie wird “zum Schutz” von vielen Gesprächen ausgeschlossen. Dafür darf sie Notizen zusammentragen und wird zu Rate gezogen, wenn es darum geht, neue Aktionen gegen Dracula einzuleiten. Eingreifen darf sie jedoch nicht. Dafür bekehrt sie die drei Verehrer von Lucy. Nachdem diese sie alle besser kennengelernt haben, sind sie ihr in inniger Freundschaft zugeneigt. Einer von ihnen lässt sich sogar zu einem Kuss hinreissen. Rein freundschaftlich natürlich, als ihn seine Emotionen und Trauer übermannen. An diesem Punkt lässt sich dann auch der Bogen zurück zur Initiationsgeschichte spannen. Im Verlaufe der Handlung rund um Dracula finden alle männlichen Protagonisten zu ihrer Männlichkeit. Entweder durch das Erkennen der wahrhaften, reinen Frau oder dadurch, dass sie sich dem Kampf gegen Dracula stellen, um diese und das Land zu retten.

Nebenfigur als Highlight: Renfield, der Zoophag

Wie es auch ist. Ich kann euch aus diesem Artikel definitiv nicht entlassen, ohne euch über mein persönliches Highlight der Lektüre zu berichten. Inhaltlich handelt es sich dabei eher um eine Nebenfigur, wobei sie in meinem Augen eine Schlüsselfunktion hat. Einer der drei Verehrer Lucys, Dr. Seward, ist ambitionierter Arzt und leitet eine Irrenanstalt in London. In seinen Aufzeichnungen können wir die Gespräche zwischen ihm und seinem Patienten Renfield mitverfolgen, der durch abnormales Verhalten auffällig geworden ist. In regelmäßigen Abständen erbittet dieser von Dr. Seward neue “Haustiere” und lockt selbst Fliegen und Spinnen in seine Zelle. Entweder um sie zu verfüttern oder um sie sich selbst einzuverleiben.

Trotz intensiver Gespräche ist der Arzt nicht in der Lage aus dem Handel Renfields schlau zu werden. Außerdem scheint der Patient seltsame Selbstgespräche zu führen. Nachdem er mehrmals versucht hat zu fliehen und sich Zugang zu Carfax Abbey zu verschaffen, findet der Arzt ihn zusammen mit Dr. Van Helsing eines Nachts schwer verletzt in seiner Zelle auf. In einer Not-OP versuchen sie sein Leben zu retten und erkennen, dass sie einen kolossalen Fehler gemacht haben.

Welcher das ist? Das verrat ich euch natürlich nicht. Ihr braucht ja mindestens einen Grund, das Ganze selbst zu lesen. Und ansonsten: Heute ist Halloween. Happy Gruseln.

Friedhof der Abbey Whitby, die als Vorbild für Stokers Carfax Abbey diente (Bild: Tom Hill, Pixabay)

Ein paar Gedanken zu einem weiteren Klassiker findet ihr hier. Nabokov: Dolores, Lolita und diese Sache mit den Namen – Natascha Huber (natascha-huber.de)

Weniger feministisch gehts hier zu: Underland. Eine Zeit- und Weltreise der anderen Art – Natascha Huber (natascha-huber.de)

Und wers eher philosophisch mag, hier lang: Timothy Morton: Ökologie & Star Wars – Natascha Huber (natascha-huber.de)

Hinweis: unbezahlte Werbung / unbezahlte Verlinkung
Natascha Huber