Jedes Kind weiß: Im Theater schaltet man die Mobilfunktelefone aus. Fotografieren und Filmen verboten. Wenn dann im dritten Akt acht Walküren in Frauenpowermanier für Selfies posieren und sich gegen den feuerlegenden Göttervater Wotan aufzulehnen versuchen, stellt sich kurz die Frage: Befinden wir uns hier mit der Inszenierung von Richard Wagners Die Walküre des Niederbayrischen Landestheaters in der Gegenwart, der Vergangenheit oder gar in der Zukunft? Von verschwommenen Linien, großen Gefühlen und driftigen Gründen, warum ihr die Walküre unbedingt selbst sehen solltet, erzählt euch nachfolgend mein kleines Resümee zur Aufführung im Theaterzelt Landshut am 13. Mai 2022. (Titelbild: Stephan Bootz (Wotan), Yamina Maamar (Brünnhilde), Fotos: Peter Litvai)
Im Foyer: Richard Wagner & Der Ring des Nibelungen
Mit der Walküre tauchen wir in den zweiten Teil von Richard Wagners opulentem Opernzyklus Der Ring des Nibelungen ein, der 1876 am Festspielhaus Bayreuth uraufgeführt wurde und zudem aus den Zyklusteilen Das Rheingold, Siegfried und Götterdämmerung besteht. In der von Göttern, Riesen, Zwergen und menschlichen Sippen besiedelten Welt finden sich Anleihen aus der germanischen Götterwelt, nordischen Sagen und nicht zuletzt dem Nibelungenlied. Letzteres dürfte – gerade hier in Passau – größtenteils eine wohlbekannte Referenz sein. Doch wie immer: Wo es künstlerische Freiheit gibt, gibt es auch Neues zu entdecken. Das dürfte sich auch das Team des Landestheater Niederbayern unter der Leitung von Intendant Stefan Tilch gedacht haben und hat Wagners Walküre einen eigenen Anstrich verpasst.
1. Akt: Siegmund meets X-Men
Ich bin ein Erste-Reihe-Kind. Während sich das Orchester direkt vor mir im Orchestergraben einstimmt, kann ich die Bühne bewundern. Schlicht großflächig mit einer Wand voll vergilbter Buchrücken gefüllt, zeigt sich später ihr Zauber: Hier wird projiziert, umgebaut, gezündelt. So auch, als das Orchester zum ersten Mal anspielt. Die Buchrücken werden zur Leinwand, zeigen eine wilde Verfolgungsjagd. Ruhelos hetzt Siegmund im Schneegestöber durch den Wald, verfolgt von einer Keule schwingenden Meute in silbermetallischen Anzügen. Ihre Gesichter verdeckt von verstörenden Hunds- /Wolfsmasken. Mein erster Gedanke: In Purge sehen die Menschen, die nachts losziehen, um zu Verbrechern und Mördern zu werden, ähnlich aus. Später verstehe ich – es ist Hunding, Siegmunds Gegenspieler mit seinem Gefolge, der Siegmund durch den Wald jagt, die Masken vielleicht eine Art Wortspiel.
Nachdem sich die zarte, inzestuöse Liebe zwischen Sieglinde – die in Hundings Haus gefangen gehalten wird – und Siegmund, bereits entsponnen hat, fühle ich mich an den nächsten Film erinnert. Siegmund zieht das ehrenhafte Schwert Nothung aus der Esche. In diesem Fall drei einzelne Klingen je Hand. Lässt hier die X-Men-Saga rund um Wolverine grüßen? Nun gut, um Helden geht’s ja in beiden Fällen. Nur, dass dieser hier singen kann. Hans-Georg Wimmer als Heldentenor trägt angenehm durch die oft disharmonischen und schweren Klänge der Wagneroper und das, obwohl er sich gerade erst von einer Erkrankung erholt hat, wie uns Stefan Tilch zu Beginn wissen lässt. Am Ende können sich Siegmund und Sieglinde aus den Fängen Hundings befreien. Die Bühne steht in Flammen. Der tätowierte Bösewicht auch.
2. Akt: In der Arena der Götter
Ihr ahnt es schon, auch im zweiten Akt komme ich nicht umhin, mich an eine bestimmte Filmreihe erinnert zu fühlen. Erst einmal verliere ich aber still und heimlich das Herz an meine Lieblingsheldin des Abends: Brünnhilde, Wotans Liebligstochter und -walküre, zum Dahinschmelzen gespielt von Yamina Maamar. Euphorisch stimmt Brünnhilde zur Begrüßung den Walkürenritt an, neckt ihren Vater, tweeted und postet auf ihrem Handy und lästert über Stiefmutter Fricka.
Diese macht Wotan dann auch erst einmal eine Szene, als sie nachhause kommt. Mit Flachmann und gekränkter Ehefrauenwürde, in exzentrisch-lila Kostüm und gepunkteter Strumpfhose, befiehlt sie Wotan, Siegmund und Sieglinde für ihre Sünde zu bestrafen. Während Wotan Pfeile schmiedet, gegen seine Frau wütet und sich letzten Endes geschlagen geben muss, um den Familiensegen zu wahren, beschließt Brünnhilde, sich ihrem Vater zu widersetzen. Sie schützt Siegmund im Kampf gegen Hunding. Wotan greift erzürnt ein. Siegmund fällt. Nothung, das Wunderschwert, zerbirst. Und Brünnhilde flüchtet mit Sieglinde, wissend, dass diese ein Kind von Siegmund unter ihrem Herzen trägt.
Nicht nur, dass Brünnhilde eine wunderbare Katniss Everdeen abgeben würde, Frickas Figur steht Effie Trinket aus Die Tribute von Panem (Filmreihe) in Nichts nach. Katniss als moderne Heldin, die für ihr Distrikt kämpft und Effie, die vom Schaupüppchen des Capitols zur Menschen-Freundin wird, haben viele Zuschauer im Kino begeistert. Wie steht es also um die Figuren in Opern wie Wagners Walküre? Bieten sie oder in diesem Fall Tilchs Interpretation der Walküre neben Gesellschaftskritik auch Identifikationsfiguren an?
3. Akt: Frauenpower & große Gefühle
Zumindest als Brünnhildes Schwestern auftauchen ist eines klar: Wir sind im Zeitalter der digitalen Kommunikation angekommen – samt den Walküren, die zombiapokalypsengleich die gefallenen Helden für ihren Vater rumchauffieren. Während die Walküren geschäftig ihren Pflichten nachgehen und dabei stimmgewaltig (was für ein Vergnügen !!!), den Walkürenritt zum Besten geben, flimmern über die Leinwand Hass- und Hetzposts aus den sozialen Medien, wie wir sie alle aus den letzten Jahren kennen. Ursprünglich für die Inszenierung 2020 in Bezug auf den Umgang mit der Situation der Flüchtenden gedacht, lassen sich auch in der jetzigen Spielzeit dafür ohne große Schwierigkeiten aktuelle Beispiele finden. Der Mensch von heute hat zu allem eine Meinung und schreit so laut er kann. Meist ohne vorher zu denken – so die scheinbare Message.
Die Walküren jedenfalls, herrlich jung, mutig und aufmüpfig, müssen sich am Ende trotzdem der Macht ihres Vaters unterordnen und Brünnhilde fügt sich ihrem Schicksal. In einem letzten beeindruckenden dialogischem Gesang zwischen dem liebenden, doch zum Handeln gezwungenen Göttervater Wotan und der freigeistigen Brünnhilde, wird es besiegelt: Er nimmt ihr ihre Göttlichkeit und schließt sie in einen Ring aus Feuer (siehe Titelbild). Dort wird sie schlafen, bis ein würdiger Held kommt, dieses Feuer zu überwinden und sie zu befreien.
Vorhang zu: Versuch über ein Fazit
Ganz allgemein: Wer Harmonie sucht, wird bei Wagner nicht fündig werden. Wer jedoch Lust auf Komplexität hat und Disharmonie aushalten kann, ist hier richtig. Aus Laiensicht und vielleicht auch aus emanzipatorischer Sicht gesehen, bietet Wagners Walküre einige Reibungspunkte und Diskussionsbedarf. Eine respektvolle Kritik sollen dabei vielleicht auch die vereinzelten Ironiespitzen von Tilchs Inszenierung leisten. Wenn zum Beispiel die Göttermutter Fricka ausgehfertig ihr Abendtäschchen schwingt oder am Ende der Feuergott Loge auf der Leinwand tänzelt und Feuer wie Konfetti pustet. Die Frage bleibt ja nun doch: Wie funktionieren Machtstrukturen, wie lassen sie sich durchbrechen, wie können Dinge verändert werden? Die Walküre selbst bietet dafür keine Lösungsstrategien, aber mit Brünnhilde sicherlich ein Fünkchen Hoffnung. Das Landestheater Niederbayern ist dafür eine würdige Bühne.
Und auch wenn die Bibliothek von Walhall als Bühnenbild eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Wissen, Geschichte und Gesetz darstellt, wie Stefan Tilch im PNP Interview erzählt (Die Walküre erwacht: 16. April Premiere am Landestheater – Marvel & Game of Thrones bedienten sich (pnp.de)), ist es für mich ebenso eine positive Mahnung an die Zuschauer: Bedenkt, Wissen ist Macht. Lesen bildet. Informiert euch. Glaubt an das geschriebene Wort. Reflektiert das Wissen derer, die vor euch waren.
Zuletzt lodert der Ring auf der Bühne in voller Pracht. Wotan liest Brünnhilde eine Gute-Nacht-Geschichte vor und bettet ihren Kopf sanft auf einem Buch, dann schreitet er endgültig von dannen.
(c) Vielen Dank an das Landestheater für die zur Verfügung gestellten Pressefotos!
Hier geht es zum Ticketkauf für die Vorstellungen in der Dreiländerhalle Passau. Premiere ist am 10. Juni 2022: Landestheater Niederbayern (landestheater-niederbayern.de)
Öffentliche Ringvorlesung zur Walküre. Am 9. Juni werden bei einem Werkstattgespräch Stefan Tilch und einige der Darsteller*innen vor Ort sein: Wagners ‚Rheingold‘ • Universität Passau (uni-passau.de)
Wenn ihr mehr über mein Studium wissen wollt:
SpuTe – eine Alternative zur Germanistik? – Natascha Huber (natascha-huber.de)
34, tätowiert, Arbeiterkind – Ersti. (Teil 1) – Natascha Huber (natascha-huber.de)
34, tätowiert, Arbeiterkind – Ersti. (Teil 2) – Natascha Huber (natascha-huber.de)
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