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Keine Literaturwissenschaft ohne Literatursysteme. Das haben sie einem schon in der Schule eingetrichtert. Damals hat man die praktischerweise auch mit den Epochen gleichgesetzt. Stimmt so aber nicht ganz, hab ich letztes Semester gelernt. Warum das so ist, welche Literatursysteme es gibt, woran man sie erkennen kann und noch den ein anderen Funfact – ab jetzt hier regelmäßig auf dem Blog. Los geht’s mit dem Literatursystem Barock von ca. 1620-1720.

Abschreiben erlaubt. Oder so ähnlich.

Man stelle sich einen Buchladen vor, in dem die selben 5 Geschichten von 300 Autoren in 400 verschiedenen Fassungen stehen. Etwas überspitzt, aber so in etwa sah die Literatur zur Zeit des Barock aus. Hier ging es nicht darum, individuell zu sein und Neues zu schöpfen – Individualität war zu dieser Zeit nämlich nicht gefragt. Höchste Kunst hingegen war es, altbewährte Geschichten immer wieder auf neue Art und Weise zu erzählen. Man trennte das Wort –verba- von der Sache –res-, was immer neue Varianten des selben Inhalts ermöglichte. Gleichzeitig war Dichtkunst im Barock nur Gelehrtensache. Autor*innen aus der unteren sozialen Schicht gab es nicht. Ein Großteil der Bevölkerung konnte weder schreiben noch lesen, aber selbst wenn, ihre Werke wären nicht als solche anerkannt worden. Gelehrtheit und Altbewährtes wiederzugeben bildeten somit das literarische Ideal der Zeit: Den Poeta doctus.

Als Haupteinnahmequelle war Schreiben ebenfalls verpönt. Dichtkunst diente im Barock lediglich dem Zeitvertreib und war nur über Anbindung an die Wissenschaft legitimiert. So fanden Gedichte ihren Platz in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Werken. Ein Beispiel dafür ist das “Architectura Navalis”, ein Buch zur Anleitung zum Schiffsbau. Eine der ersten Seiten des Buches schmückt ein Gedicht.

Von der Hoffnung auf bessere Zeiten

Gebeutelt von den Folgen des 30-jährigen Kriegs, Hungersnöten, Pest, Krankheiten und der kleinen Eiszeit, dominierten das damalige Leben der einfachen Leuten drei Maxime:

  1. Memento Mori (Bedenke, dass du sterblich bist)
  2. Carpe Diem (Nutze den Tag)
  3. Vanitas (Alles ist vergänglich)
Vanitas-Motiv: Erinnerung an die Vergänglichkeit der Dinge

Was zuerst als Widerspruch erscheinen mag, gab den Menschen in diesem Jahrhundert Orientierung. Mit der Hoffnung auf Erlösung im Jenseits und dem festen Glauben an eine gottgegebene Ordnung, waren die Menschen bestrebt, die Zeit im Diesseits auszuharren und mit Fleiß, Gehorsam und Religiosität das Beste daraus zu machen. Als Vorbild diente dabei der Stoizismus der Antike. Im Gegensatz zur normalen Bevölkerung lebte der Adel allerdings in Dekadenz und Übermaß. Es wurden berauschende Feste an den Höfen gefeiert. So ziemlich Jedem dürften die Ausschweifungen des selbsternannten “Sonnenkönigs” von Frankreich bekannt sein. Ludwig XIV. und sein Schloss Versailles sind ein Paradebeispiel für damalige Dimensionen.

Dieser Dualismus wurde auch in der Literatur immer wieder aufgegriffen. In den Texten stehen sich Leben und Tod, Leid und Freude, Armut und Reichtum, Hoffnung und Verzweiflung nicht oppositionell gegenüber, sondern werden als sich gegenseitig bedingend und grundsätzlich miteinander verknüpft verstanden. Somit finden auch die Gegensätze memento mori und carpe diem über das Vanitas-Motiv zueinander.

Dichterisches Highlight: Das Sonett

Jedes Literatursystem hat seine literarischen Besonderheiten. Wenn man über das Barock spricht, kommt man gar nicht drum rum, das Sonett zu erwähnen. Mit seiner Form und seinem Aufbau ist es wie gemacht, um die Themen der damaligen Zeit auch literarisch widerzuspiegeln. Wie sieht so ein Sonett also aus und was macht es besonders?

Ein Sonett besteht im Regelfall aus zwei Quartetten und zwei Terzetten. Das heißt aus zwei Strophen mit je vier Verszeilen und zwei Strophen mit je drei Verszeilen. Innerhalb der Verse gibt es ein bestimmtes Metrum, also eine Rhythmisierung durch Silbenbetonung. Dieses besteht bei einem Sonett aus sechs Hebungen (=Silbenbetonung) und einer Zäsur (=Pause) in der Mitte. Vielleicht kommt euch das noch aus der Schulzeit bekannt vor: Man spricht von einem Jambus mit sechs Hebungen und somit von einem Alexandriner. Im Sturm und Drang taucht das Sonett dann übrigens leicht verändert wieder auf. Schuld daran ist Shakespeare – dazu aber an passender Stelle mehr.

Inhaltlich korrespondieren die Quartette und Terzette ebenfalls. Während in den Quartetten oft der aktuelle Zustand der Welt geschildert wird, bieten die Terzette einen Vorschlag zur Erlösung. Dadurch wird die für die Barockzeit typische Antithetik auch hier wieder aufgegriffen. Alternativ können die Quartette als Behauptung und Gegenbehauptung fungieren, die dann in den Terzetten zu einer Synthese finden. Wenn ihr nachlesen wollt, wie das aussieht: Andreas Gryphius’ berühmtes Sonett Es ist alles eitel (1643) ist dafür ein sehr gutes Beispiel.

Martin Opitz als Literatur-VIP

Einer, der das Literatursystem des Barocks ganz gravierend mitgeprägt hat und dem wir zum einen die Form des Sonetts zu verdanken haben, zum anderen, dass sich “Deutsch” als Sprache der Poesie etablieren konnte, ist Martin Opitz. Mit seinem “Buch von der deutschen Poeterey”, das er 1624 veröffentlichte, reformierte er die Literatur. Statt Silbenzählen war nun das Maß der Dinge der Wechsel von betonten und unbetonten Silben, wie wir es schon beim Sonett beobachten konnten. Genau das ermöglichte es, die deutsche Sprache auf das Niveau der damals in Europa vorherrschenden “Sprachen der Literatur, Poesie und Wissenschaft” zu heben. Hier dominierten zuvor Italienisch, Französisch und Latein.

Einen sehr amüsanten Figurendialog, der auch die Frage aufgreift, warum man denn nun plötzlich Gedichte auf Deutsch schreibt, liefert Daniel Kehlmann in seinem großartigen Roman Tyll. Auf ihrer Mission den letzten lebenden Drachen zu töten, kommen Kirchner (ein Gelehrter des Papstes) und Magister Fleming (siehe Petrarkismus) während einer Kutschfahrt genau darauf zu sprechen. Den Roman kann ich jedem ans Herz legen. Tyll Eulenspiegels Erlebnisse sind ein (manchmal auch trauriges) Lesevergnügen.

Funfact: Petrarkismus

Der Petrarkismus als Ablösung des Minnegesangs des Mittelalters bringt das mit dem “Abschreiben” nochmal auf ein ganz anderes Level. Orientiert an Francesco Petrarca haben sich zuerst die italienischen Dichter an dieser Form der Liebeslyrik versucht, wovon dann wiederum die deutschen Dichter abgeschrieben haben, äh, pardon, sich inspirieren ließen.

Grundlegend ist die Geschichte in den Gedichten des Petrarkismus schnell erzählt: Unglücklich verliebter Jüngling verehrt und umgarnt seine Geliebte und leidet, kann aber auch nicht ohne dieses Liebesleid leben. Gleichzeitig wird die Dame ermahnt, dass die Zeit gegen sie spielt: Sie wird irgendwann ihre Jugend und ihre Schönheit verlieren. Auch hier hat Opitz seine Finger im Spiel, er verhalf dem Petrarkismus in Deutschland zum Durchbruch. Seine Dichterkollegen Paul Fleming und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau haben dem ganzen dann nochmal einen eigenen Twist verpasst. Flemings Anti-Petrarkismus bricht das Konzept auf und lässt die Dame den Jüngling erhören. Bei Hoffmann von Hoffmannswaldau geht’s dagegen etwas indiskreter zu. Seinen galanten Petrarkismus zeichnen Freizügigkeit und erotische Doppeldeutigkeit aus. Zu guter Letzt entspringt dieser Lyrikform noch der geistliche Petrarkismus. Darin verlagert Friedrich Spee das Liebesbestreben auf die christliche Ebene. Womit wir wieder bei einem der Hauptthemen des Barock angelangt wären: Religion und Glauben. Tja, so schön schließt sich mancher Kreis.

Natascha Huber