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Ein Raum, der deinen geheimsten und größten Wunsch erfüllt, wenn du es erst einmal geschafft hast, dich durch all die Gefahren einer streng bewachten, verlassenen Zone durchzuschlagen? Klingt verlockend. Findet auch Geoff Dyer, den Andrei Tarkosky‘s Kultfilm “Stalker” nicht mehr loslässt, seit er ihn in seiner Jugend zum ersten Mal gesehen hat. Deshalb hat er dem Film nun mit seinem Buch Zona eine Hommage gewidmet. Um den Film und sein eigenes Leben besser zu verstehen, wie er sagt. Im heutigen Blog nehme ich euch mit durch die tiefen Gefilde der Menschheitsträume, seelischen Abgründe und Künstlerhoffnungen.

Stalker: Ein Klassiker der sowjetischen Filmgeschichte

Grauer Himmel. Ein altes, baufälliges Haus. Ein Mann mittleren Alters sinkt in kniehohem Gras nieder, verpuppt sich, verbirgt sein Gesicht zwischen den grünen Halmen. Eine Ameise schleicht über seine linke Hand, im Hintergrund nicht das leiseste Vogelzwitschern, nichts ist erkennbar im abgetönten Grau zwischen den gespenstisch in die Luft ragenden Strommasten. Stalker atmet erleichtert aus: Er ist wieder heimgekommen.

Heimgekommen heißt in diesem Fall in die Zone. Von der weiß keiner genau, wie sie eigentlich entstanden ist. In dem nicht weiter benannten Dorf am Rand des besagten Gebiets munkelt man von Außerirdischen oder unbemerkten Meteroiteneinschlägen. Der Erkundungstrupp, der vor langer Zeit losgeschickt wurde, kehrte jedenfalls nicht zurück. So wurde der Bereich kurzerhand abgesperrt und ist seitdem streng bewacht.

Im Herzen der Zone befindet sich der Raum, der, wenn man ihn betritt, jedem seinen größten Wunsch erfüllt. Daher hat es sich Stalker zur Aufgabe gemacht, Menschen dorthin zu führen. Um der Welt Hoffnung zu geben, wie er seinen neusten Kunden “Professor” und “Schriftsteller” später erklären wird, als ihre Expedition zu scheitern droht. Vielleicht aber auch ein bisschen für sich selbst und seine Frau, die mit ihrer kranken Tochter Monkey in der Stadt lebt und sich jedes Mal weinend, schreiend und vorwurfsvoll von ihm verabschiedet, wenn er zur nächsten Reise aufbricht. Denn sowohl der Weg in die Zone, als auch das Gebiet selbst lauern voller Gefahren.

Like a lost Place – Die Zone (Bespielbild: Michael Gaida on pixabay)

Am Ende erreicht das Trio den Raum unbeschadet, doch weder der Professor noch der Schriftsteller wollen ihn betreten. Beide haben ihre ganz eigenen Bedenken und Intentionen (die ich hier natürlich nicht spoilern werde). Das Trio kehrt somit unverrichteter Dinge aus der Zone zurück. Nach einem letzten Bier in der Bar trennen sich ihre Wege. Stalker taumelt Zuhause hoffnungslos zu Boden. Seine Frau hält, frontal in die Kamera blickend, einen Monolog über ihre Liebe. Im Nebenzimmer bewegt ihre Tochter mit scheinbar telekinetischen Fähigkeiten Gläser über den Tisch. Das letzte fällt zu Boden. Im Hintergrund ertönt Beethoven’s “Ode an die Freude”, während das Durchrauschen eines nahen Zugs die Wohnung erschüttert. Das Mädchen legt den Kopf seitlich auf die Tischplatte. Starrt ins Leere. Hebt ihren Blick. Sieht uns an. Nur eine Sekunde.

Ein Film wie ein letztes Wort

Manche Filme oder Bücher, die man vor langer Zeit gesehen oder gelesen hat, sind wie ein letztes, unverrückbares Wort, schreibt Dyer in seinen Überlegungen zu Tarkovskys Meisterwerk. Egal, wie viel Neues noch nachkomme, wie viel man auch lerne, es könne nie diese eine Stelle einnehmen. Trotzdem konnte er den Sog, den der Film auf ihn ausübt, nie richtig begreifen und versucht nun, schreibend eine Antwort zu finden. Dabei ist er nicht der Erste, der Tarkovsky ein Denkmal setzt. Selbst Lars von Trier hat mit Antichrist dem Meister Attribut zollen wollen – was leider missglückt ist, wie Dyer findet.

In seinem essayistischen Buch nimmt der Autor seine Leser:innen mit durch einen wilden Mix aus Filmgeschichte, Kunstimpressionen und eigenen Lebenserinnerungen. So kommt er nicht umhin sich auch der Frage des Kerns der Zone zu stellen: Was bedeutet dieser Raum? Und was bedeutet es, seinen größten Wunsch erfüllt zu bekommen? Kennen wir ihn überhaupt? Porcupine, Stalkers Lehrmeister im Film, hat sich selbst getötet, nachdem er den Raum betreten hat. Statt seinen zuvor in der Zone gestorbenen Bruder zurückzubekommen, hat er Reichtum erhalten. Mit dieser Wahrheit über sich selbst konnte er nicht weiterleben.

Der größte Wunsch mehr Fluch als Segen?

Auch Dyer kreist immer wieder um diesen Punkt und kommt zu ganz konkreten Aspekten, warum das mit dem Wunsch nicht funktionieren kann:

  1. Unser größter Wunsch könnte sich auf etwas beziehen, was in der Vergangenheit liegt. Diese kann aber auch vom Raum nicht retrospektiv verändert werden.
  2. Was zu der Frage führt: Steht unser größter Wunsch in direkter Relation zu unserem größten Bereuen?
  3. Unser größter Wunsch ist vielleicht etwas, das in diesem Moment noch nicht unser größter Wunsch ist, sondern es erst später wird.
  4. Unser größter Wunsch ist nicht konsistent und kann auch von unserer Lebenssituation beeinflusst sein. So ist unser größter Wunsch eventuell verfälscht von dem aktuellen Moment.
  5. Wenn wir älter werden, wird die Diskrepanz zwischen unserem größtem Wunsch und dem, was wir denken, was unser größter Wunsch ist, immer größer.

Dyers Resümee ist offensichtlich eine Abwendung von solchen Wunschfantasien:

What are people left with in the fairy tales after their three wishes have come true? […] a slab of clay or a handful of dust. The only good life is one which there is no need for miracles.

Dyer Geoff: Zona, S. 178

Schreibende Spurensuche…

Um Geschichten geht es generell immer wieder in Dyers essayistischem Versuch, Tarkovsky nachzuspüren. Wie die Figur des Schriftstellers im Film begibt er sich auf eine Reise, um zurück zu seiner Sprache zu finden. Denn ein Schriftsteller sei jemand, der Schreiben schwieriger findet als andere Menschen, zitiert Dyer Thomas Mann. Und ergänzt: Schreiben ist nicht Trost, sondern Qual. So begegnen uns in Zona auch Rilke mit seinem Gedicht über ein Einhorn, das nur dadurch existiert, dass es vom Glauben der Menschen genährt wird; oder William Wordsworth, an dessen Werk Dyer erklärt, wie Dinge in ihrer Natürlichkeit nie das sind, was wir Menschen versuchen hineinzuinterpretieren.

Gibt es eine Wiedervereinigung mit unseren verlorenen Dingen? (Bild: Nikita Khandelwal on pexels)

Und nicht zuletzt können wir Dyer selbst ein Stück weit kennenlernen. So erzählt er an einer Stelle, dass Professors verlorener Rucksack ihn an eine Begebenheit in seinem eigenen Leben erinnert. Eines Tages habe er eine graue Tasche verloren, die seine Frau ihm einmal aus Berlin mitgebracht hatte. Eigentlich fand er sie furchtbar schäbig, nun bemerkte er jedoch, dass er sie schmerzlich vermisste. Laut einer Parabel, so Dyer weiter, würden wir Menschen glücklicherweise am Ende unseres Lebens wieder mit den Dingen vereint werden, die wir im Laufe der Zeit verloren haben. Was erst nach einer freudigen Aussicht klingt, demaskiert er aber schnell als Enttäuschung. Es würde uns lediglich vor Augen führen, wieviel Wert wir zu Lebzeiten unwichtigen Dingen beigemessen haben. Er plädiert stattdessen für eine Alternative: Jeder solle am Ende erfahren, WO er die Dinge verloren hat, die ihm davon am liebsten waren.

Die Zone als Lost Place

Nicht nur die Faszination für Geschichten, auch die Anziehungskraft von mystischen oder verlassenen Orten ist schon immer Teil der Menschheit gewesen. Er selbst habe in Kindertagen zwischen den rostigen Gleisen und heruntergekommenen Gebäuden der am Stadtrand liegenden, stillgelegten Bahnstation gespielt. Sich Abenteuer ausgemalt. Von einer Zukunft, die es so in dem Ort vor der Zone offensichtlich nicht mehr gibt. Als Stalker und seine Familie die Bar verlassen, bietet sich ein trostloses Bild: Hinter einem dunklen, trüben See erheben sich monströse Fabriktürme, stoßen nebligen Rauch aus. Die Landschaft ringsum uneben bedeckt von Schnee. Oder Asche? Jedenfalls flirren Focken durch die Luft. Stalker trägt seine Tochter Huckepack, ihre Mutter die Krücken. Später, in der Nahaufnahme von Monkeys Gesicht, sehen wir Blütenstaub durch das Zimmer schweben. Auch am Stoff ihres Kopftuchs tanzen Knäuel von Weiß.

Der Ort vor der Zone: Fabriken, Rauch, Trostlosigkeit (Beispielbild: Franz van Heerden on pexels)

Also alles hoffnungslos? Nicht ganz. Lassen auch die Aufnahmen vermuten. Tarkovsky verwendet monochrom anmutende Sepiatöne, um seine düstere Welt zu entwerfen. Die Bilder erinnern an eine ölverschmierte Leinwand mit düster-verlorenen Landschaften. Nur die Zone erscheint in ihren natürlichen Tönen. Und die Aufnahmen von Stalkers Tochter.

Many forms of landscape depend on a particular artist, or writer or artistic movement to render them beautiful, to make the rest of us see what has always been there […]

Dyer Geoff: Zona, S. 58

Vielleicht gilt das ja nicht nur für die Zone, sondern auch ganz allgemein für die Dinge, die wir um uns haben. Auch wenn Tarkovsky immer wieder betonte, dass er nicht mit Symbolik arbeite – eventuell ist es doch eine Nachricht, dass wir das Gute nicht in der Ferne suchen müssen, sondern es in dem Alltäglichen um uns ist. Wir müssen es nur sehen. So wie auch Dyers Buch ein Angebot an uns Leser:innen ist. “To enter a room is to agree to a certain behaviour […]” zitiert er aus Don DeLillo’s White Noise.

Ich würde den Gedanken weiterspinnen: Einen Raum zu betreten, bedeutet auch die Augen für neue Dinge zu öffnen. Dyers Zona ist ein solcher Raum, den es zu entdecken gilt. Und der mich mit einem Gefühl zurücklässt, sehr ähnlich dem, als Stalker zu Beginn des Films endlich in seiner Zone ankommt. Seinem persönlichen Ort der Hoffnung, den er mit allen Besuchern teilt:

The air is filled with a howl, the kind of howl the wind would make if a terrible gale were blowing (there isn’t a gale) and it (the wind) was the breath of an animal wounded by what it was hearing, by what was being said.

Dyer Geoff: Zona, S. 68
Durch den Tunnel in das Herz der Zone – oder zurück ins Leben? (Beispielbild: pexels)

Wer nun unbedingt den Film sehen will: In voller Länge möglich unter (9) Stalker | FULL MOVIE | Directed by Andrey Tarkovsky – YouTube

Das wunderbare Buch von Dyer findet ihr hier: Zona von Geoff Dyer – englisches Buch – bücher.de (buecher.de)

Und wer lieber Opern als Filme mag, findet hier meine Besprechung zu Puccinis Madame Butterfly: Seefestspiele Bregenz 2022: Puccinis Madame Butterfly – Natascha Huber (natascha-huber.de)

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Natascha Huber