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Was man unter einem Klassiker der Literatur versteht, merkt Jede:r spätestens, wenn ihm einer im Deutschunterricht begegnet – was des einen Freud, ist des anderen Leid. Aber für Begeisterungs-stürme sorgen sie selten. Hinzu kommen die aktuellen Debatten, die ihnen Unzeitmäßigkeit vorwerfen und dass sie an der gegenwärtig geforderten Diversität scheiterten. Warum es sich doch lohnen kann, sie zu lesen und warum ich für 2024 ein Klassikerjahr geplant habe, erzähle ich euch im heutigen Blog (inkl. Top 10 Klassiker-Inspirationsliste ganz unten).

Goethe braucht kein Mensch.

Nach zwei Lektüren von Die Leiden des jungen Werther und – zugegeben – halbherzigen Versuchen, mich durch Faust und Götz von Berlichingen zu quälen, wäre ich hier ja fast geneigt zuzustimmen… Der Meister der deutschen Dichter und ich werden einfach keine Freunde mehr. Mit Schiller hab ich schon erst gar nicht experimentiert. Und auch Theodor Fontanes Effie Briest hat mich nicht unbedingt in Lese-Euphorie versetzt. Trotz spannender Seminare mit motivierten Dozenten, die uns versucht haben zu zeigen, warum diese Werke auch heute noch für Jedermann entdeckenswert sind und wie faszinierend komparatistische Analysen im Bereich Intermedialität – also z.B. der Vergleich mit Filmadaptionen – sind.

Das erste Mal Begeisterung: Theodor Storms Schimmelreiter (Bild: Ich)

Noch genötigt von Goethe stolperte ich dann allerdings nichtsahnend in das Leseabenteuer von Theodor Storms Der Schimmelreiter – und war begeistert. Die Geschichte rund um den zum Deichgrafen aufstrebenden Hauke Haien, der als „Geisterreiter“ durch die Erinnerung der Einwohner eines nordfriesischen Dorfes spukt, entpuppte sich als regelrechter Pageturner. Und das obwohl die Novelle von Storm bereits 1888 erschienen ist. Da hat Storm ganz schön was gezaubert. Die Verflechtung von Rahmen- und Binnenerzählung, die Einflüsse der Romantik, die Storm gekonnt mit den klassischen Motiven der Vergänglichkeit und gesellschaftlichen Moral des Realismus mixt, der langsame aber stetige Absturz des Protagonisten aufgrund seines Machtstrebens… Ganz großes Kino. Endlich konnte ich die Begeisterung nachvollziehen, die klassische Literatur auf den/die Leser:in ausüben kann und hatte Blut geleckt. Also doch keine endgültige Verbannung für Goethe?

Ein paar Goethe-Zugeständnisse

Nun gut, Goethe wird es für mich wohl nicht mehr werden. Trotzdem muss ich zugeben: Ich verstehe, warum er so ein prägnante Rolle für die Entwicklung der deutschen Literatur spielt und was ihn zu einem solchen Vordenker macht. Werthers emotionale Ausbrüche, seine Radikalität in der unmöglichen Liebe zu Lotte – das war ein Paukenschlag in der Literatur.

Ganz was anderes als Goethe- aber kontrovers diskutiert; Lolita von Nabokov. (Bild: Ich)

Das erste Mal schrieb Einer über ein Individuum, das seinen Gefühlen freien Lauf lässt, sich nicht in das Korsett der Gesellschaft zwängen lässt und das bis ins Extrem auslebt: Indem er sich zum Suizid entscheidet. Was man heute in Bezug auf die Diskussionen rund um das Thema „Triggerwarnungen“ anführen könnte, galt auch damals schon. Der Werther löste eine regelrechte Bewegung aus: Die Leser:innen weinten und litten mit ihm. Und nicht wenige entschieden sich dazu, es ihm gleich zu tun, und ihr Leben zu beenden.

Diversität, Feminismus, Gegenwartsdiskurs & andere Probleme

Womit wir auch schon bei der Hauptkritik der Texte der alten Meister wären: Sie passen nicht mehr in die heutige Gesellschaft und zu deren Bedürfnissen, so heißt es oft. Zudem fehlt es ihnen an Vielstimmigkeit. Gefühlt alles weiße, alte Männer. Zumindest die, die heute im Kanon und im Deutschunterricht zu finden sind. Und deshalb wird an diesem Thron schon seit geraumer Zeit mit Vehemenz gerüttelt, wie auch Florian Bissig in seinem Kommentar feststellt. Dies sei nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass von Literatur gefordert wird, Antworten auf aktuelle Probleme zu liefern und dabei zugleich auf die persönlichen Befindlichkeiten eines jeden möglichen Lesers Rücksicht zu nehmen. Das habe nicht nur einen Effekt auf die Rezeption des Kanons als Kulturgut, sondern auch auf die Entstehung von Gegenwartsliteratur. Bissig findet hierzu klare Worte:

Die Politisierung, Moralisierung und Demokratisierung der Literatur ist nicht umsonst zu haben. Die Kompromisse und Rücksichtnahmen gehen zulasten der reinen, literarischen Qualität und sprachlich-stilistischen Innovation. Ihr Preis ist der ästhetischen [sic!] Wert, der längst nur noch leise Fürsprecher hat.

Warum Sie Klassiker der Literatur lesen sollten – ein Plädoyer, Florian Bissig

Wo Bissig sich hier ganz klar gegen das Ressentiment gegenüber Klassikern ausspricht und sie als „Überempfindlichkeit“ der Studierenden degradiert, plädiert Theresa Reichl laut, modern und feministisch für eine Revolution gegen den altbackenen Kanon. In ihrem 2023 erschienenen Buch Muss ich das gelesen haben? Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht – und wie wir das jetzt ändern zeigt sie, wie das aussehen kann. Neue Bücher braucht das Land. Oder so ähnlich. Stimmt das denn? Und sollen wir nun Klassiker lesen oder nicht?

Auch weit oben auf meiner To Do Liste: J.D. Salinger und die Biografie von Audre Lorde (Bild: Ready Made, Pexels)

Klassiker lesen: Verantwortung, Begegnung und Diskussion

Dass es auf komplexe Fragen keine einfachen Antworten gibt, wissen wir aufgrund ganz anderer Probleme, die unsere Gesellschaft heutzutage hat. Dennoch ist meine persönliche Meinung, dass das Lesen von Klassikern und der Austausch darüber eine Bereicherung ist, weil es die Diskussionen über wichtige Themen fördert. So sieht es auch Maike Albath. In ihrem Artikel auf Deutschlandfunk schreibt sie:

Eng verknüpft mit der Frage, welche Bücher einer Literatur zu den klassischen Grundlagentexten gehören, ist die Diskussion über einen Kanon. Sie muss immer wieder neu geführt werden. Aber das historisch Fremde zu kennen, hilft die Gegenwart zu begreifen. 

Wozu noch Klassiker lesen? Maike Albath

Was den Kanon betrifft, bin ich überzeugt davon, dass er sich – wie Sprache selbst – in einem stetigen Wandel befindet, der sich über einen längeren Zeitraum abzeichnen wird. Austausch, Diskussion und Awareness können eventuell dazu beitragen, den Prozess zu beschleunigen. Zwang, Werkszensur oder Verbannung halte ich nicht für richtig. Auch nicht, die Moralkeule zu schwingen oder sich deswegen in die Haare zu kriegen. Schließlich geht es immer noch um die Liebe zur Literatur. Und die Macht der Worte.

Mehr als Worte: Stimmen als Zeitzeugen

Wie Albath in ihrer Aussage schon andeutet, sind Literaturklassiker, wie alles in der Kultur, Zeugen unserer Geschichte. Mit seinen Höhen und Tiefen – und auch gravierenden Fehlern. Wir sollten sie als Möglichkeit sehen, etwas über uns selbst zu lernen. Dabei halte ich es für ein Muss, offen zu sein, neue Stimmen zu entdecken, sie hochzuhalten und hinauszurufen in die Welt, damit sie von anderen gehört und gelesen werden. Seien es James Baldwin oder Toni Morrison. Seien es Kim de l’Horizon oder Timothy Morton. Oder Regina Ullmann, Claire Goll, Vicki Baum und Mela Hartwig. Letzteres sind vier jüdische Autorinnen der Moderne, mit denen ich mich gerade für meine Bachelorarbeit beschäftige und deren großartigen Werke eine viel größere Leserschaft verdienen. Es gäbe noch unzählig viele weitere beeindruckende Stimmen zu nennen. Ich schreie also ganz laut: Klassiker lesen – und gleichzeitig abseits vom Mainstream stöbern.

Meine traumhaft schönen, limitierten Klassikerexemplare aus der Season-Edition von Thomas Nelson Publishing (Bild: Ich)

Zum Abschluss will ich euch also noch zwei kleine Listen zur Inspiration mitgeben. Eine, die kurz und knackig zusammenfasst, warum es sich doch lohnt, Klassiker zu lesen. Eine zweite, in der ich euch die Top 10 für mein geplantes Klassikerjahr 2024 mitgebe.

4 Gründe für das ein oder andere Klassiker-Abenteuer

Freude an der Sprache und deren Entwicklung: Vielleicht mag ein Klassiker an der ein oder anderen Stelle etwas altbacken klingen – aber letzten Endes ist Lesen auch immer eine kleine Schatzsuche nach dem einen funkelnden Satz, an dem man sich besonders freut. Und der ein oder andere bleibt vielleicht fürs Leben.

Es ist für jeden was dabei: Unter dem Begriff verbirgt sich eine Wunderkiste aller möglichen Genres in allen möglichen Formen. Egal ob Science-Fiction, Liebesgeschichte, Gesellschaftsroman oder Detektivstory – zu jedem Bereich gibt es Klassiker zu entdecken. Und sie sind ganz einfach zu googlen.

Ihre Themen sind universell und verbindend: Die Suche nach dem Sinn des Lebens, der Herzschmerz über den Verlust der großen Liebe, die verheerende Zerstörung von Menschen und Leben durch Krieg. Alles Themen, die uns schon über Jahrhunderte hinweg beschäftigen und bewegen und nichts an ihrer Prägnanz verloren haben.

Entschleunigung und Austausch: Kein Fastfood-Media, kein Scrollen, dafür einfach mal ein bisschen langsamer lesen, sich mit dem Stoff ausführlich auseinandersetzen. Klassiker bieten dazu jede Menge Gelegenheit. Und wer das mit Social Media nicht ganz lassen kann: Booktube zu klassischer Literatur macht einfach süchtig. (Empfehlungen siehe unten)

Meine Top 10 Klassiker für mein Klassikerjahr 2024

1: Von Mäusen und Menschen – John Steinbeck (1939): Ich habe zugegeben ganz hohe Erwartungen an mein erstes Buch von Steinbeck und bin total gespannt. Von Mäusen und Menschen begleitet zwei ungleichen Freunde, die ihren Traum verwirklichen wollen, aber an dem Verhalten des geistig zurückgebliebenen Lennie zu scheitern drohen.

2: Frankenstein – Marry Shelly (1823): Kult, Kult, Kult. Nachdem ich letztes Jahr Stokers Dracula gelesen haben, ist es nun Zeit für Shellys Meisterwerk – das offensichtlich mit den modernen Rezeptionen von Frankenstein wenig zu tun hat.

3: Die Glasglocke – Sylvia Plath (1963): Ich liebe alles, was mit der Frage nach menschlicher Existenz und ihren Herausforderungen zu tun hat. In ihrem Roman erzählt Plath von der erfolgreichen Esther Greenwood und ihrer Existenzkrise.

4: Pnin – Vladimir Nabokov (1957): Nachdem ich Lolita verschlungen habe, ist es Zeit für ein weiteres Werk von Nabokov. In Pnin schildert er das Leben des russischen Professors, der sich dem American Way of Life in New York einfach nicht fügen kann.

5: Incidents in the Life of a Slave Girl – Harriet Jacobs (1861): Rassismus und die Geschichte der Sklaverei. Themen, mit denen wir uns alle beschäftigen sollten. Ich freue mich sehr, dass ich die Memoiren von Harriet Jacobs entdeckt habe und bald lesen werde.

6: Verbrechen und Strafe – Fjodor M. Dostojewski (1866): Der Autor gilt als Meister der psychologischen Verstrickungen. In Verbrechen und Strafe (auch Schuld und Sühne) versucht der Protagonist über einen Mord hinwegzukommen, den er moralisch für gerechtfertigt hält.

7: Giovannis Zimmer – James Baldwin (1956): Baldwins Roman gilt als eines DER Werke der queeren Literatur. Eine Geschichte über Scham, Homophobie und Rassismus im Paris der 50er Jahre. Allein wegen der Dokumentation I’m not your Negro ein absolutes Muss für mich.

8: Der Golem – Gustav Meyrink (1915): Bei der Recherche in meinem Seminar zur Literatur der Moderne entdeckt und schon total gespannt. In einer alten Prager Stadt lebt die uralte Legende des Golem weiter. Protagonist Athanasius Pernath begegnet ihm eines Tages in seiner Werkstatt und muss erleben, wie dieser Besitz von ihm ergreift.

9: Seitenwechsel – Nella Larsen (1929): Die Geschichte um zwei junge hellhäutige Frauen mit afroamerikanischer Wurzeln. Die eine entscheidet sich für ein „weißes“ Leben. Doch eines Tages kehrt die andere Freundin zurück und bringt alles ins Wanken

10: Der Glöckner von Notre-Dame – Victor Hugo (1831): Naja, was soll ich sagen. Noch ein bisschen Kult, Grusel und Liebe. Und auch hier wahrscheinlich ganz was anderes, als das, was man so von Disney kennt.

Meine aktuelle Lektüre: Wuthering Heights von Emily Brontë in der wunderschönen Vintage Classics-Edition von Penguin (Bild: Ich)

Als Vorbereitung lese ich zudem gerade Wuthering Heights von Emiliy Brontë (1847) und bin ebenfalls begeistert. 2024 wird also mein Lesejahr. Hoffen wir’s mal. (Wir kennen das ja alle mit den lieben Vorsätzen). Ich bin jedenfalls ganz aufgeregt und freue mich riesig, dieses „Projekt“ nun endlich in Angriff zu nehmen. Ich lade euch herzlich ein, die Welt der Klassiker mit mir zusammen zu entdecken und mir in den Kommentaren zu verraten, welche ihr schon gelesen habt oder bald noch lesen möchtet.


Meine Lieblingsinspirationen auf YouTube: Tristan and the Classics, Kain und Abel (nicht nur für Klassiker) und Carolyn Marie Reads

Meine Eindrücke zu Dracula vom letzten Jahr: Bram Stokers Dracula: Frauenkonzeption oder die Epoche der Romantik – Natascha Huber (natascha-huber.de)

Mehr dazu, was ich im Studium so mache: Semester-Recap: Von Irrenanstalten, Plüschtieren und der DDR – Natascha Huber (natascha-huber.de)

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Natascha Huber